Montag, 24. Dezember 2007
Eine Weihnachtsbotschaft
Ein Jahr zuvor…

Wieso immer kurz vor dem schönsten Moment?
Gerade hatte er zu schweben begonnen, weil er die schweren, an seine Füße geketteten Steine losbekommen konnte, die Welt unter den Schuhen wurde mit zunehmender Höhe übersichtlicher und ein Gefühl vermisster Erleichterung ergriff seinen Körper, da weckten ihn Regentropfen, die immer energischer auf sein Gesicht prasselten.
Er wusste nicht, warum das Fenster offen stand.
Er wusste nicht, wann er ins Bett gegangen war.
Er wusste nicht, warum er in die billige Wohnung mit dem Schimmelproblem direkt an der Hauptstraße ziehen musste, nachdem sie ihn rausgeschmissen hatte.
Eines wusste er, weil ihn der laute Markt auf der Straße vor seiner Wohnung daran erinnerte:
Heute war Heilig Abend.
Es tangierte ihn genauso wenig wie die drei davor genannten Sachen.
Eigentlich wollte er weiterschlafen, als er das Fenster geschlossen hatte, doch starke Kopfschmerzen verhinderten eine Rückkehr in die Traumwelt.
„Hoffentlich war der Weihnachtsmann in diesem Jahr schon hier und hat eine Packung Aspirin dagelassen…“
Er stand von dem Sofa auf, dessen zahlreiche Flecken als Beweis dafür genommen werden konnten, dass es auch schon ein Weihnachten vor 50 Jahren erleben durfte, und machte sich auf den Weg in die Küche.
Kurz vor der Küchentür stieß er mit dem Fuß gegen eine Flasche, deren restlicher Inhalt sich über den Boden ergoss.
„Last Christmas, I gave you my heart, but the very next day, you gave it away…“
Die dünnen Wände waren nicht dazu in der Lage, die Musik von draußen am Eindringen zu hindern. Der Frust über diesen Umstand stand am Anfang einer Kausalkette, an deren Ende eine Wodka-Flasche durchs Wohnzimmerfenster nach draußen flog und auf dem Dach eines Weihnachtsmarkt-Standes zersprang.
Da er das Fenster vorher geschlossen hatte, verteilten sich nun Scherben über den schmutzigen Teppich seines Wohnzimmers.
Er blieb stehen, denn selbst durch sein vernebeltes Gehirn drang durch, dass diese Aktion nicht allzu gut gewesen war. Es wurde Zeit, für ein wenig klarere Gedanken zu sorgen.
Deswegen entschied er, raus auf seinen Balkon zu gehen, selbst wenn er wegen der Kälte und der Weihnachtsmusik wenig Lust dazu verspürte. So schlug ihm der kalte Wind auch sofort direkt ins Gesicht, und sehr bald begann seine rechte Hand zu zittern.
Ob es an der Kälte oder an der Musik lag, konnte er nicht genau bestimmen. Langsam formierte sich in seinem Kopf ein Gedanke, sehr unbestimmt zwar, aber er sorgte für die Ahnung, dass er irgendetwas vergessen haben musste.
Was für eine Rolle spielte das eigentlich?
Sollte er nicht froh über das Vergessen sein?
Ermöglichte diese Fähigkeit des Gehirnes nicht erst das Leben an sich?
Gab es eine Möglichkeit, das ganze Leben zu vergessen, wenn der größte Teil davon besser in der Vergessenheit aufgehoben wäre?
Tatsächlich, die Kälte wirkte, denn ihm fiel eine Lösung ein.
Mit der linken ergriff er das Geländer und schaute hinunter auf den Gehweg.
„Möglicherweise nicht hoch genug, aber versuchen sollte ich es trotzdem…“
Plötzlich wurde die Musik vom Weihnachtsmarkt leiser.
Trotz des heulenden Windes vernahm er eine Stimme. Sie kam irgendwo von unten, und er kannte sie.
„Wat machst Du da oben?“
Auch die Umrisse des Mannes dort auf dem Gehweg kamen ihm vertraut vor. Trotzdem stellte er eine Gegenfrage, deren Sinnlosigkeit ihm schon vor dem Aussprechen bewusst war.
„Was machen Sie da unten?“
Für einen Moment dachte er, der Mann sei weggegangen, denn es gab keine schnelle Antwort.
„Naja, ick loofe traurick durch de Jegend und sehe plötzlich nen Typen, der uff seen Baikong-Jeländer steigen will…“
Der Wind fing an, kleine Schneeflocken vor sich her zu treiben.
Sie waren seiner Laune völlig ausgeliefert, und einige von ihnen fanden bald ihren Weg in die Gesichter der beiden Gesprächspartner.
Der Mann oben sprach als nächstes. Er stützte sich jetzt mit beiden Händen auf das Geländer, seine Stimme hörte sich bestimmter an als zuvor.
„Und, was wollen Sie dagegen machen?
Soll ich Sie fragen, warum sie traurig sind, damit ich abgelenkt werde und nicht springe? Ist es das?“
Der Mann unten trat ein paar Schritte näher zum Haus heran.
Die Beine musste er mühsam anheben, seine linke Hand stützte sich auf einen Stock.
„Ick bin traurik, weil Du heute das Versprechen jebrochen hast, wat ick Dir vor jenau eenem Jahr abjenommen hab. Du wolltest da sein, um mir wieder zu helfen…“
Trotz seiner unzweifelhaft kraftvollen Stimme gingen seine letzten Worte im Geschrei eines Mannes unter, der sehr lange auf diesen Moment gewartet zu haben schien.
„Was für einen Unterschied hätte es gemacht, wenn ich dagewesen wäre? Selbst wenn ich Ihnen geholfen hätte, wären Sie einige Tage später wieder alleine gewesen! In dieser Welt gibt es keine Hilfe, die von Dauer ist! Sehen Sie das ein, so wie ich im letzten Jahr gelernt habe, es einzusehen! Und soll ich Ihnen sagen, woher das kommt? Weil den Menschen egal ist, was außerhalb ihrer vier Wände passiert. Klar, manche heucheln und behaupten das Gegenteil. Aber wissen Sie, was geschieht, wenn ich springen und da unten alleine im Schnee verrecken würde?
Vielleicht liest einer darüber zwei oder drei Sätze in der Zeitung, nachdem ihm der Bauch noch vom Weihnachtsessen des Vortages wehtut.
Vielleicht denkt er dann etwas wie: “Armer Kerl, und ausgerechnet an Weihnachten.“
Vielleicht fragt er auch nach dem Warum.
Aber danach macht er die Zeitung zu, und spätestens wenn er seinen Weihnachtsbaum an den Straßenrand schmeißt wird er mich und die Millionen anderer Menschen, die einsam irgendwo da draußen krepieren, vergessen haben. Es hat eine Weile gedauert, doch jetzt kapiere ich, wie diese Welt funktioniert.“
Seine Stimme begann zu krächzen, der kalte Wind und das laute Geschrei forderten ihren Tribut.
Der Schnee wurde dichter und verbarg mehr und mehr die Welt vor seinem Balkon. Er stand weiter da und umklammerte das Geländer, immer in Erwartung einer Antwort.
Die aber blieb aus.
Kein vertrauter Dialekt drang nach oben, nichts war mehr zu hören als das Heulen des Windes.
Minuten vergingen, in denen innere und äußere Kälte um seinen Körper kämpften. Er wünschte sich eine Antwort, und sicher war es dieser Wunsch, der seine Entscheidung festigte, den Balkon zu verlassen und ins Bett zu gehen.
Am nächsten Morgen sollte er die Antwort bekommen.
Vor seiner Tür lag ein kleines Päckchen, in dem sich lediglich ein Zettel befand. Er entfaltete ihn und begann zu lesen. Danach flog der Zettel direkt in den Papierkorb. Doch dann geschah etwas, was diese Geschichte endlich zu der Weihnachtsgeschichte werden lässt, die ihr erwartet habt:
Der Zettel blieb nämlich nicht im Papierkorb.
Bald darauf wurde er von dort wieder aufgehoben und auf eine Kommode im Wohnzimmer gelegt, als nächstes fand er einen Platz auf dem Nachttisch, und schließlich endete die Reise des Zettels auf der Schrägwand über dem Bett, an die er sorgfältig geklebt wurde.
Er hing da noch lange nachdem die Müllabfuhr den Weihnachtsbaum vom Straßenrand abgeholt hatte, und vielleicht wird er in Zukunft seinen kleinen Beitrag dazu leisten, dass der Mann mit der zittrigen rechten Hand an Heilig Abend nicht mehr alleine auf dem Balkon steht, sondern seine Versprechen hält.
Auf dem Zettel stand nur ein Satz, geschrieben zwar mit krakeliger Schrift, aber erdacht im Kopf eines Mannes mit ehrlichen Absichten:

„Und ist die Welt oft noch so schlecht, wer zwingt Dich, ein Teil davon zu werden?“

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