Sonntag, 23. Dezember 2012
Ihre Hand
30, 40 Menschen standen vor ihm in der Schlange. Sie führte zu einem Kartenhäuschen, wo Tickets für den Weihnachtsmarkt verkauft wurden. Es fühlte sich falsch an. Die Schlange bewegte sich so langsam, als wäre sie gefroren, kurz vor Froststarre. Sein T-Shirt war unterm Pullover aus der Hose gerutscht, die Klirrkälte schnitt langsam seine Wirbelsäule hoch.

Es fühlte sich falsch an. Weil er fror, kriegte er miese Laune, und weil er miese Laune kriegte, bewölkten sich seine Gedanken. Weihnachtsmärkte sind für Zombies, Glühwein-Zombies. Sie drängeln an Holzhütten vorbei, Körper an Körper gequetscht, lassen sich anhusten und wegschieben, damit sie am Ende des Weges die Fertigmische, die bei Netto in der Anderthalb-Liter-Packung knapp zwei Euro kostet, für zweifünfzig in den Becher bekommen, plus Pfand. Den trinken sie dann, um zu vergessen, wie sinnfrei Weihnachtsmärkte sind. Langes Anstehen, Bibbern – bloß weil man vergessen will, dass man lange angestanden und gebibbert hat. Es fühlte sich falsch an.

Seine großen Zehen waren taub. Sein Shirt hatte er nicht wieder in die Hosen gesteckt, denn dazu hätte er sich die Handschuhe ausziehen müssen. Das wäre deutlich zu viel verlangt gewesen, wie er fand.

Der Wind kam nun von vorne. Er wehte Stimmgewirr vom Marktgelände herüber, als unverständlichen Geräuschbrei, und er wirbelte jetzt auch seine Gedanken durcheinander. Besorg endlich den neuen Teppich, geh‘ nicht hin zur Prüfung, lass Dich nie wieder blöd anmachen. Es fühlte sich so falsch an. Er dachte: Vielleicht ist es Zeit, öfter zu verdrängen. Vielleicht ist es Zeit, egoistischer zu sein. Vielleicht ist es Zeit, Glühwein-Zombie zu werden. Doch dann spürte er ihren Arm am Rücken. Sie fasste seine Hand, ihm wurde warm, und er freute sich auf den Weihnachtsmarkt.

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Sonntag, 20. Dezember 2009
Wie der Weihnachtsmann Weihnachten feiert
Wieso jedes Jahr wieder, wo er doch im tiefsten Innern keine Lust hatte?
Daniel, sein sechsjähriger Neffe, stand vor ihm und sagte ein Gedicht auf. Der Junge wippte dabei leicht mit dem Oberkörper und machte zwischen den Versen kurze Pausen, um nachzudenken. Wie im letzten Jahr. Und in dem Jahr davor. Neu war, dass Daniels Schwester mittlerweile auch stehen konnte. Sprechen ging noch nicht so gut. Aber in ein, zwei Jahren, da würde sie wahrscheinlich ein eigenes Gedicht vortragen. Neben ihrem Bruder. Scheiße. Langsam bildete sich Schweiß unter dem weißen Bart, welcher an des Onkels Gesicht klebte. Der schwere, rote Mantel, auf dem Weg zum Haus seiner Schwester wie gewohnt ein vortrefflicher Garant für Wärme, wurde im überheizten Wohnzimmer zur tragbaren Sauna. “Daniel, sag doch noch das „Weihnachtswunder“ auf, das kannst Du so schön“. Bitte nicht. „Durch den Flockenfall, klingt süßer Glockenschall…“ Fuck.
Als Daniel sein zweites Gedicht beendet hatte, ging es weiter wie üblich. Alles folgte dem einstudierten Weihnachtsprotokoll. Der Weihnachtsmann lobte, wie brav die Kinder dieses Jahr gewesen waren. Daniel schaute überall hin - nur nicht in die Augen des großen Mannes, der angeblich mit seinem Schlitten zu ihm gekommen war.
Dann gab’s endlich Geschenke. Und während die Kinder auspackten, wurde der Weihnachtsmann von seiner Schwester beiseite genommen. „Schön, dass Du das jedes Jahr wieder machst.“ Ihr Mann ergänzte: „Ja, wirklich klasse.“ Santa Clause nickte nur. Antwort in Gedanken: „Gut, Pflicht erfüllt. Kann ich jetzt also saufen gehen.“
Szenenwechsel zu „Johnny B.‘s Schenke“. Auch die gehörte jedes Jahr dazu. Dieselbe schmutzige Theke, dieselben Hirschbilder, dieselbe rauchgefüllte Luft, dieselben Gesichter.
Wer um diese Zeit hier saß, der hatte keinen besseren Ort. Oder er war zumindest zutiefst davon überzeugt.
Es folgten Bier, Jägermeister, Bier, Wodka, Jägermeister und Bier. „Weihnachssmann, wisso bringssu uhns kne Geschnke?“ Doch der hörte das gar nicht mehr. Das Schicksal hatte es so gewollt, dass der Weihnachtsmann dieses Mal auch ein Präsent bekam. Zumindest für eine Nacht. Am nächsten Morgen dann die Frage: „Willst Du noch bleiben?“ Nein, wollte sie nicht. Darüber solltest Du Dich aber nicht beschweren, Weihnachtsmann. Deine Aufgabe ist das Geschenkeverteilen, vergiss das nicht.

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Dienstag, 6. Oktober 2009
Liebe und Benzin
Der Geruch von Benzin, der hier in allen Räumen hängt, wird von mir mittlerweile genauso wenig wahrgenommen wie früher das Uhr-Ticken in meinem Kinderzimmer. Jedem Neuankömmling ging es schnell auf die Nerven, aber ich selber hörte es nur, wenn ich wollte.
Genauso ist es mit der Tankstelle: Wer die betritt, kann sich ihrem Geruch nicht entziehen. Ich hingegen wäre froh, würde ich das Benzin wieder riechen. Das bedeutete nämlich, dass ich einen Lebenswandel vollzogen hätte. Dass sich die schwache Stimme in mir durchgesetzt hätte, die ab und an sagt: „Geh weg von hier“. Stattdessen starre ich nach draußen und sehe entweder eine Wiese, deren Grün mich langweilt, oder ich beobachte die wenigen Kunden bei ihren immer-gleichen Verrichtungen. Dabei versuche ich mir vorzustellen, wo die Kunden herkommen und wo sie hinwollen, doch das gelingt mir nicht. Sie bleiben stets nur Leute, die Benzin kaufen. Einmal fragte ich einen Mann, einen Mann im mittleren Alter von harmlosem Äußeren, was er vorhabe. Der antwortete, das gehe mich nichts an. Seitdem warte ich auf Emmanuelle. Sie hat lange, offene, blonde Haare. Ihre Augen spiegeln Entschlossenheit, die selten einen Hauch von Verletzlichkeit zulässt. Außerdem spricht Emmanuelle mit französischem Akzent, weil sie aus Paris kommt. Sie ist von dort abgehauen, hat ihren immer fauler und selbstbezogener werdenden Mann verlassen und holt jetzt das Abenteuer nach, um das er sie betrogen hat. Eine Pistole biegt Emmanuelles Schicksal zurecht und an diese Pistole klammert sie sich, als sie meine Tankstelle betritt. „Gib mir all das Geld, wenn Du überleben willst!“ Ich erfülle ihren Wunsch, will jedoch mehr. „Erschieß' mich, oder nimm mich mit. Lass mich bloß nicht hier. Ich folge Dir, ich raube mit Dir, und ich helfe Dir töten, sollte das nötig sein. Du bestimmst die Regeln. Wir fahren durch's Land, wir überfallen, wen wir wollen und wir wohnen und lieben uns da, wo es uns passt. Was sagst Du, Emmanuelle, was sagst Du?“

Inspiriert vom Lied „Liebe und Benzin“, einem neuen Werk des Grafen.

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Donnerstag, 21. Mai 2009
Germanys Next Bulimie-Opfer
Ja, in den vergangenen Wochen hat sich hier nichts geändert (ich schreibe eben nur, wenn eine kreative Phase es mir erlaubt) und ja, der folgende Text ist eine Wieder-Veröffentlichung. Zum Ende der aktuellen Staffel von Heidis Wichs-und Lästershow passt er aber ebenso gut wie damals zu ihrem Beginn.


Innere Schönheit

Eine Fleisch-und Makeup-Beschauung, vielerorts „Casting“ genannt.
Kribbeln in mir, besonders um Bauchgegend.
Ein Happen zu Essen, egal was, und ich kotze.
Der Kopf voll von weißem Rauch. Verhüllt jeden schwierigen Satz, den ich denke.
Bin hier, weil…
Gehe ins Hauptzimmer, man hat mich gerufen.
Beim Betreten des Raumes kurzer Hauch von Verwunderung in den makellosen Jury-Gesichtern.
Geht schnell weg, dann wieder Lächeln, eisig.
Beine werden schwach, geben fast nach.
„Du entsprichst leider nicht ganz unseren Vorstellungen.“
Keine Ahnung, was die Kotze noch unten hält.
„Danke für Deinen Mut. Auf Wiedersehen!“

So würde es ablaufen.
Ich hasse Spiegel, aber noch mehr hasse ich folgenden Satz:
„Auf die innere Schönheit kommt es an.“
Ich hasse ihn besonders, weil er nur von Leuten gesagt wird, die nichts davon verstehen.

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Sonntag, 3. Mai 2009
Ich tippe, also bin ich
In Deinem Kopf fliegen Optionen dessen durcheinander, was Du in diesem Moment tun könntest: Das Abendessen vorbereiten, und zwar mit Planung und genügend Zeit; den langen Zeitungsartikel lesen, der Dein Interesse geweckt hat und an dem Dich nur die Masse an Text abstößt; die alte Springsteen-Platte auflegen, dabei dem Boss die Regie über Deine Gedanken überlassen. Alle Möglichkeiten befinden sich vor Deinen Augen, entfalten aber keine Wirkung auf Dich. Sie vereinnahmen Dich nicht, sondern schweben nur langsam verblassend vor Dir, während Dein Zeigefinger auf den Power-Knopf des PCs drückt. Ein künstliches Licht erhellt den Raum, in dem Du Dich befindest, und mit ihm Dein Gesicht, Dein angespanntes Gesicht.
Die Optionen, denen Du Dir gerade noch vage bewusst warst, sind verschwunden, ihre Einzelteile sickerten in Dein Unterbewusstsein und verharren dort bewegungslos bis zu ihrer Rückkehr. Du öffnest ein Chat-Programm, Deine Augen suchen gierig nach Freunden, die sich in einer Situation befinden, die Deiner gleicht. Schnell hast Du sie ausgemacht, schnell heißt es „hi“, „tach“ und „hey“, und immer wieder „hallo“, während bereits die ersten Rückmeldungen aufblinken.
Zügig bewegen sich Deine Finger über die Tastatur, formen Textfragmente, bei denen in der Eile Buchstaben ihre Plätze tauschen oder gar nicht erst an ihre Position kommen. Eben solche Bausteine schicken Dir Deine Freunde zurück. Es sind Spiegelbilder, aber das bemerkst Du nicht, lieber reagierst Du mit kleinen lachenden Gesichtern. Mal entsprechen sie Deiner Stimmung, oft dienen sie nur bloßem Entgegenkommen. So fliegen Gesprächsfetzen hin und her und formen dabei den Stromfluss der Globalisierung. Aber halt, wieso reagiert Natalie nicht? Egal, schon gehört Deine Aufmerksamkeit einem Link, der von Max kommt und Dir befiehlt, ihm zu folgen (Klick mich!). Du hast Dich gerade zum Pimmel über Berlin vorgearbeitet, da klettern zwei Affen aus Markus Chatfenster und beginnen ein Duett von „something stupid“. Entnervt werden sie weggeklickt, kurz darauf wirfst Du Max ein LOL hinüber. Mittlerweile hat die Laterne vor Deinem Fenster ihren Dienst aufgenommen, die Vögel kommen langsam zu Ruhe, doch Dein Körper löst sich nicht von den Eingabegeräten. Deine Zeitung ist zum Untersetzter geworden, verschmiert von einer Pizza, die entstellten Buchstaben sind genauso nutzlos wie der akustische Brei aus Deinen PC-Boxen. Längst hast Du Dich an beides gewöhnt, immer tiefer tauchst Du ein ins weiße Rauschen.
Am anderen Ende der Stadt legt Natalie ihr Buch beiseite und wartet still darauf, dass die Vögel schlafen gehen.

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Dienstag, 24. Februar 2009
Schlussverkauf
Er geht zum Info-Schalter, etwas ungelenk, ja, aber seine Frage kommt schnell.
„Ich brauche dringend ein neues Image.“
Der freundliche Herr hinterm Tresen, Herr Henkelmann, legt die hohe Stirn in Falten, damit jeder seine Konzentration sieht.
„Nun, unser Angebot ist sehr umfangreich. Bitte sagen Sie mir doch, wonach Sie genau verlangen.“
(Es ist einfacher, wenn ich dem Kunden ab jetzt einen Namen gebe, sonst besteht die Gefahr einer Verwechslung. Außerdem habe ich keine Lust mehr, die Protagonisten ständig umschreiben zu müssen, etwa mit „der Mann vor dem Schalter“ oder „sein Gegenüber“. Also, von nun an heißt der Kunde „Herr K.“.)
Herr K. muss nicht lange überlegen.
„Aber schauen Sie mich doch an. Würden Sie sich mit diesem Image auf die Straße trauen?“
Der Kundenberater kippt seinen Kopf ein wenig und streicht sich über die Krawatte.
„Mein Herr, nichts liegt mir fremder, als Ihnen zu nahe treten zu wollen…“
Schnell wird er unterbrochen.
„Sie verkaufen doch Images, richtig?“
Herr Henkelmann antwortet sofort.
„Selbstverständlich, ja…“
„Klasse. Und weil Sie das tun, können Sie ein gutes von einem schlechten Image unterscheiden. Ich frage Sie also nochmal:
Würden Sie sich mit dem Image, das Sie hier vor sich sehen, auf die Straße trauen?“
Ein Kundenberater sucht nach Worten. Hat man selten. Sollte er einen anderen Beruf wählen?
„Äh, eventuell teilen Sie mir einfach mit, an welches Image Sie denken, und ich werde sehen, ob wir etwas Passendes für Sie dahaben.“
Herr K. lehnt sich weiter nach vorne, die Hände auf den Tresen gestützt.
„Ich suche was in die Richtung Charmeur, sie wissen schon:
Sichere Gestik, treffsichere Komplimente, immer ne spontane Antwort parat, passt in jede Ecke usw!“
Auf der Stirn von Herrn Henkelmann bilden sich die ersten Schweißperlen. Er will sie wegwischen, antwortet aber erst.
„Mein lieber Herr, es tut mir furchtbar Leid, aber da kann ich Ihnen gar nicht helfen.“
Die Hände des Herrn K. wandern weiter nach vorne.
Er klingt empört.
„Warum nicht?“
Herr Henkelmann verschränkt beide Hände vor seinem Bauch.
„Die sind alle ausverkauft.“

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Donnerstag, 12. Februar 2009
Innere Schönheit
Anlässlich des Starts einer weiteren Staffel von "Germany's Next Topmodel", DER Sendung zum Lästern, Wichsen und Komplexe-Kriegen (je nach Geschlecht, Körperbau und psychischer Stabilität der Zuschauerin/ des Zuschauers) habe ich einen älteren, unveröffentlichten Text aus meinem Archiv gekramt. Heidi, der hier ist für Dich!

Innere Schönheit

Eine Fleisch-und Makeup-Beschauung, vielerorts „Casting“ genannt.
Kribbeln in mir, besonders um Bauchgegend.
Ein Happen zu Essen, egal was, und ich kotze.
Der Kopf voll von weißem Rauch. Verhüllt jeden schwierigen Satz, den ich denke.
Bin hier, weil…
Gehe ins Hauptzimmer, man hat mich gerufen.
Beim Betreten des Raumes kurzer Hauch von Verwunderung in den makellosen Jury-Gesichtern.
Geht schnell weg, dann wieder Lächeln, eisig.
Beine werden schwach, geben fast nach.
„Du entsprichst leider nicht ganz unseren Vorstellungen.“
Keine Ahnung, was die Kotze noch unten hält.
„Danke für Deinen Mut. Auf Wiedersehen!“

So würde es ablaufen.
Ich hasse Spiegel, aber noch mehr hasse ich folgenden Satz:
„Auf die innere Schönheit kommt es an.“
Ich hasse ihn besonders, weil er nur von Leuten gesagt wird, die nichts davon verstehen.

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Sonntag, 14. Dezember 2008
Ein Bild von ihr
Er sah sie zum ersten Mal, verweilte lange mit seinem Blick auf ihrem Gesicht und wollte damit weitermachen, als er wegschauen musste.
Er sah sie zum zweiten Mal, wieder mit intensivem Blick, da merkte er: Das erste Mal hatte Spuren hinterlassen.
Vor dem dritten Mal war sie bereits in seinen Kopf geklettert.
Er dachte, dass sie es von alleine getan hatte, er sie aber auch gerne eingeladen hätte. Es sollte ihr in seinem Kopf gutgehen, also räumte er dort alles weg, was sie behindern oder was sie nicht mögen würde.
Er sah sie zum dritten Mal und beließ es nicht dabei, sondern sprach mit ihr. Jetzt geschah etwas Kurioses: Die Frau im Kopf und die Frau, welche wirklich vor ihm stand und mit ihm redete, begannen zu kämpfen, weil beide nicht übereinstimmten. Eigentlich hätte die Kopf-Frau ein Abziehbild der echten Frau sein müssen, aber dem war nicht so.
Der Kampf dauerte nicht lange, die Frau im Kopf gewann ihn fast mühelos. Von nun an war sie es, an die er dachte. Immer, wenn ihm eigentlich hätte klarwerden müssen, dass beide Frauen nicht zusammenpassten, wurde er von der Frau im Kopf beruhigt.
Lange Zeit über fragte er sich nie, ob die Kopf-Frau für immer die Kontrolle behalten würde. Stattdessen ließ er es zu, und dafür existierte ein simpler Grund: Er liebte sie.
Wieso sollte er auch hinterfragen, sich sensibilisieren für die vielen Fehler seiner Freundin, wenn er eine tiefe emotionale Verbindung genießen konnte, welche die Lücke in seinem Leben füllte? Eine Lücke, so groß, dass sie sich vor seiner Liebesbeziehung mit der Kopf-Frau immer in sein Bewusstsein gedrängt hatte, ob er nun mit dem Fahrrad über eine vereiste Straße in Richtung Arbeit fuhr oder ihn die Wucht einer über das Sound-System seines Lieblings-Kinos verstärke Explosion im neuen James Bond erschütterte. Wer kann ihm ernsthaft vorwerfen, die Realität nicht für so wichtig genommen zu haben, wie es ihm in der Schule und Universität beigebracht wurde? Sicher, sein bester Kumpel sagte, nachdem der die eigenen Hemmungen davor, einen Freund zu kritisieren, überwinden konnte, immer mal wieder Sätze wie „Sach ma, bist Du Dir eigentlich sicher, dass Du nichts merkst?“ und „Deine Freundin kann schon recht fies sein, oder?“. Allein, sie drangen nicht zu ihm durch, denn die Frau in seinem Kopf nahm ihnen jede Wirkung.
Deswegen sitzt er jetzt auch neben der Liebe seines Lebens auf der kalten Ledercouch von Christine, ihrer besten Freundin, deren schrille Stimme regelmäßig einsetzt, um die anderen Partygäste über unverzichtbare Details essentielle Lebensthemen betreffend zu unterrichten, und alles was er den Abend über beisteuert lässt sich mit zwei Worten zusammenfassen:
Ja Schatz.

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Freitag, 14. November 2008
Wache
Die Nacht geht, ein Tropfen bleibt. Er klammert sich an die Spitze eines Blattes und sieht aus, als fiele er gleich herunter.
Ich stehe davor, so nah es geht, wage mich nicht weiter.
In diesem Moment verbietet mir meine Faszination fast das Atmen. Jeder Hauch kann den Tropfen vernichten, und ich möchte nicht Schuld daran sein. In mir reift ein Entschluss:
Es ist meine Berufung, hier zu wachen! Ich werde dieses Kunstwerk beschützen, es in seiner Form erhalten, mich dafür hergeben!
Lacht ihr deshalb? Dann fragt Euch, bitte: Was ist es, das ihr bewacht?

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Montag, 6. Oktober 2008
Verplant
Der kleine Max schaute an seinem Vater empor und musste den Kopf weit in den Nacken legen, bis er oben angekommen war. Er machte das immer so, wenn er eine Frage hatte.
Nie konnte er darüber klagen, dass sein Vater nicht antwortete. Der bekam dann immer eine Stimme, mit der er nur zu Max sprach, und sonst zu niemandem. Darauf war Max stolz.
Er zog diese Stimme den anderen Stimmen seines Vaters vor, wie etwa der Chef-Stimme, der Mama-Stimme und der Nachbar-Stimme.
„Papa, warum wohnen wir in einem Haus und andere müssen auf der Straße schlafen?“
Sein Vater sah für einen Augenblick weiter aus dem Fenster, dann sagte er in seiner Max-Stimme:
„Weil Deine Mama und Ich immer sehr lange überlegen, bevor wir uns entscheiden, weißt Du?“
Max drehte seinen Kopf kurz zum Fenster und legte ihn bald darauf wieder in den Nacken.
„Was überlegt ihr denn?“
Die Augen des Vaters fixierten weiter einen Punkt im Garten.
„Wir fragen uns jedes Mal: Was passiert, wenn wir dies machen? Was geschieht, wenn wir das machen? Zum Schluss nehmen wir die Möglichkeit, die uns am meisten voranbringt.
Das nennt man Planung, mein Junge.“
Der Nacken von Max tat mittlerweile ein bisschen weh. Trotzdem dachte Max nicht daran, seinen Vater aus den Augen zu lassen.
„Und alle, die auf der Straße leben, haben nicht geplant?“
Im Gesicht des Vaters bewegte sich nichts, die Kopfhaltung blieb auch unverändert.
„Ja, so ist es. Mama und ich hingegen schreiben alle unsere Planungen in ein Notizbuch.
Da wir so viel überlegen, ist das im Laufe der Jahre richtig dick geworden.
Wenn Du schreiben kannst, schenke ich Dir auch eins.“
Max begann zu lächeln.
„Damit ich niemals auf der Straße wohnen werde?“
Der Vater gestattete sich nun ebenfalls ein kleines Schmunzeln, wenngleich er nach wie vor aus dem Fenster sah.
„Genau. Du wirst lernen, selber zu planen. Dann hast Du immer ein Dach über dem Kopf und kannst Deinem Kind oder Deinen Kindern später selber ein Notizbuch kaufen.“
Wie gewohnt war Max mit den Antworten seines Vaters zufrieden und schlief an diesem Abend schnell ein.
Wenige Zimmer weiter hingegen lag sein Vater noch lange wach.
Er hatte seinen Sohn belogen. Zwar gab es ein Notizbuch, aber er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie viele Seiten beschrieben waren, weil er es seit Jahren nicht angefasst hatte.
Allerdings wusste er, dass man die Seiten an einer Hand abzählen konnte, und ihr Inhalt taugte kaum, um eine Hütte zu bauen.

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