Samstag, 23. August 2008
Der Graf
Ein leichter Windstoß streifte den Mantel, dessen schwarze Farbe mit der nächtlichen Dunkelheit verschmolz, und ließ seinen Träger kurz schaudern. Der blieb stehen, sein Gesicht verharrte in ausdrucksloser Nachdenklichkeit. Hochgewachsen war er, beinahe zwei Meter groß. Seine Haut sah blass aus, pechschwarze Haare verstärkten diesen Eindruck. In letzter Zeit musste er oft schaudern. Mittlerweile kannte er dieses Gefühl, ganz im Gegensatz zu früher. Da war er anders gelaufen als jetzt, wo ihm jeder Schritt schwer fiel. Damals hatte er jeden Schritt im Bewusstsein gesetzt, bedeutend zu sein.
Alle waren vor ihm zurückgewichen. Besonders diejenigen, die ihn kannten. Respekt war das mindeste, was er verlangt hatte, immer mit fließender Grenze zur Angst.
Heute musste er sich kurz gegen einen Baum lehnen, um neue Kraft zu sammeln.
Die Umgebung war still, kein Geräusch zu hören außer ein paar Vögeln. Sogar der Wind verschwand. Der Mann blickte auf, seine Augen suchten die Stadt, deren Lichter sie deutlich aus der Ferne erkennbar machten. Er wollte dort nicht mehr hingehen, so gerne er es auch früher getan hatte. Zu hell flackerten ihre Lichter jetzt, zu unvorhersehbar, zu beliebig. Sie lösten eine Hektik aus, die sich auf jeden Stadtbewohner zu übertragen schien.
Draußen auf dem Friedhof kam die Hektik nicht an. Diese Umgebung war die einzige, welche der Mann noch verstand. Er löste seinen Blick von der verhassten Stadt und stieg die letzten Meter auf einen Hügel hinauf, dem Ziel seiner Reise. Dort angekommen musste er an eine Regel denken, die ihm bereits als Kind beigebracht worden war:
Der Preis für ein unsterbliches Leben besteht in der Feindschaft zum Licht.
Aber als der alte Graf dann nach Osten sah und sich dort bald die ersten Sonnenstrahlen abzeichneten, da schauderte er wieder und blieb sitzen, bis ihn das Licht verschluckte.


(Inspiriert durch das Lied „Der Graf“, welches von einem Mitglied der besten Band der Welt geschrieben wurde.)

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Sonntag, 13. Juli 2008
Die Statue im Keller
Liebe Leser, es folgt eine erneut recht abstrakte Kurzgeschichte. Zumindest war das beim diesmal mühseligen Schreibprozess meine Empfindung, die sich nach mehrmaligem Durchlesen bestätigte. Vielleicht glaubt der eine oder andere, dass die Geschichte kaum zu entschlüsseln ist oder ich ein Wirrkopf bin. Eventuell sieht man mich auch als abgehobenen Intellektuellen, der gerne Beweise für anderer Leute Dummheit konstruiert.
Zumindest den letzten Vorwurf weise ich an dieser Stelle von mir. Wer die Geschichte also nicht oder kaum versteht, ist nicht dumm. Es reicht, wenn sie bei dieser Person für einen oder ein paar Denkanstöße gesorgt hat.

Die Statue im Keller

Ich stehe vor meinem Haus und lasse die Hektik der Straße auf mich wirken.
Autos rasen vorbei, die meisten zu schnell.
Das gleichmäßige Brummen von Motoren, schon aus der Ferne hörbar, verkündet die Unerschöpflichkeit dieses Stromes. Zusammen mit Fetzen von Musik und dem gelegentlichen Quietschen der Reifen vermengt es sich zu einem akustischen Brei, an den sich ein jeder von uns längst gewöhnt hat. Für Fahrer und Insassen der Autos sind diese Geräusche zu einer selbstverständlichen Hintergrundmusik geworden, deren Verstummen eine große Leere zurücklassen würde.
Jeder der Mitfahrer hat ein Ziel, und sicher vergessen einige, ihr Ziel am Weg zu messen.
Aber was tut das zur Sache? Ich bin mir sicher: Der Strom wird nie versiegen, solange ich auf dieser Erde weile. Er wird weiterfließen, aber bald keinen Schaden mehr anrichten, dem Fortschritt sei Dank.
Was mir die Sicherheit gibt, solche Annahmen zu verteidigen?
Du musst wissen, dass in meinem Keller eine Statue steht, sicher verborgen in einem dicken Tresor, den niemand aufbrechen kann. Ich habe diese Statue vor ein paar Jahren selber angefertigt, und offenbar besitze ich ein besonderes Talent dafür, denn die Arbeit ging mir trotz mangelnder Erfahrung leicht von der Hand.
Nachdem ich ihr den letzten Schliff verpasst hatte und die ganze Form der Statue zum ersten Mal in vollendeter Gesamtheit betrachtete, musste ich weinen. So perfekt die Formen, so exakt die Details, so makellos die goldene Oberfläche. Mir wurde bewusst, dass es meine Pflicht war, diese Kostbarkeit mit allen Mitteln vor der Welt zu schützen.
Zwar kann ich mein Meisterwerk dann nicht so oft betrachten, wie es mir lieb wäre, aber mir reicht ohnehin die Gewissheit über ihre Existenz und Sicherheit.
Einmal habe ich geträumt, dass mir diese Gewissheit genommen wurde. Jemandem war es gelungen, den Tresor zu sprengen. Ich stand daneben, doch keiner meiner Füße ließ sich bewegen. Sie waren am Boden festgeklebt und ich musste mit ansehen, wie kräftige Hände die Statue in Stücke rissen. Nachdem sie in Trümmern vor mir lag und meine Füße wieder ihren Dienst taten, dachte ich einen Moment daran, eine neue Statue anzufertigen.
Aber alle Mühe wäre vergebens gewesen, denn ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wie ich die letzte Statue gebaut hatte.
Der Anblick des zerstörten Kunstwerkes wurde mir unerträglich und ich lief nach draußen.
Die Hektik auf der Straße ließ mich zittern, das Brummen der Motoren machte mir Angst. Ich spürte, dass der Strom von Autos vorm Versiegen stand. Die Musik und das Quietschen der Reifen versuchten sich gegenseitig zu überbieten, bis Blut aus den Ohren der Fahrer und Mitfahrer rann. Trotzdem hielten die Menschen an ihren Zielen fest.
Es ging darum, um jeden Preis anzukommen, auch wenn die Bäume am Rand der Straße längst alle Blätter verloren hatten. Ich sah noch eine Weile in Richtung der Autos, versuchte, mit hektischen Kopfbewegungen einzelne Menschen auszumachen, doch es gelang mir nicht. Als die Angst unerträglich wurde, rannte ich auf die Straße und wählte das Schicksal meines zerstückelten Kunstwerkes.

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Samstag, 31. Mai 2008
Sheena
Das Blut tropfte schon vom Kinn, als er endlich davon merkt.
Es klebt an seiner Hand, mit der er sich eben an die schmerzende Nase gefasst hat. Wer für den Schlag verantwortlich ist, lässt sich nicht mehr ausmachen. Zu viele junge und junggebliebene Menschen springen durcheinander. In unregelmäßigen Abständen treffen sich die Körper, was gewollt ist. Wer zurückfliegt, wird von denjenigen, die außen stehen, zurück in Richtung Mitte geschubst. Ein völliges Durcheinander, ausgelöst durch aggressive E-Gitarren, dröhnende Bässe und ein Schlagzeug, welches den schnellen Takt vorgibt.
Die Musik findet ihren Ausdruck im chaotischen Treiben vor der Bühne, oder ist es umgekehrt?
Fällt einer hin, hilft ihm ein anderer hoch. So auch dem Jungen mit der blutigen Nase, die jetzt farblich viel besser zu den rot gefärbten Haaren passt. Er taumelt nach außen zum Rand der Halle, den Tinitus im Ohr. Die weißen drei Sechsen auf seinem schwarzen
T-Shirt färben sich langsam rot, weil das Blut den Weg nach unten gefunden hat.
Lange brauchte er, um sich für dieses T-Shirt zu entscheiden. Maßgebliches Kriterium war immer:
„Wird es Sheena gefallen?“
Das Selbe galt für seine Haarfarbe. Rot, grün, blau, gelb?
Den letzten Ausschlag gab Sheenas Haarfarbe, da stand er schon vorm Spiegel, vor ihm vier unterschiedliche Dosen Farbe. Im Hintergrund lief die Musik von Sheenas Lieblingsband, und er übte das Kopfnicken. Es fühlte sich nicht richtig an, aber bis zum Konzert waren es noch drei Wochen. Als die Band dann anfing, hatte er keine Zeit, Sheena die Fortschritte seines Trainings zu beweisen, denn Sekunden später war sie schon verschwunden. Irgendwo auf dem Weg nach vorne, dazwischen eine tobende Menge.

Vier Songs lang ließ er sich schubsen, ohne viel Gegenwehr zu leisten, dann traf seine Nase auf die Hand eines anderen. Oder den Ellenbogen. Oder den Kopf. Jetzt steht er am Rand und drückt die Nase mit seinen Fingern zusammen. Das, was ihm dabei in die Ohren dringt, ist für ihn keine Musik, sondern ein akustischer Brei verschiedener Sorten Krach.
Ganz tief drinnen weiß er, wie bekannt ihm diese Erkenntnis vorkommt.
Von Sheena weiterhin keine Spur. Dafür ein bulliger Typ, drei Köpfe größer als er und im verschwitzten Muscle-Shirt, der ihm zu seiner Haarfarbe gratuliert.

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Samstag, 17. Mai 2008
Der tote Engel
Schaut ihn euch an! Ist es nicht ein besonderes Vergnügen, ihm zuzusehen, wie er die Straße hinab geht? Nein, „gehen“ ist das falsche Verb. „Schweben“, das ist besser!
Für ihn gibt es keine Last, die seinen Körper auf den Boden drückt. Er fliegt!
Doch nicht zur eigenen Erbauung, oder um über anderen zu stehen, sondern nur der Hilfsbereitschaft wegen! Den Großteil seines Lebens opfert er anderen, ohne einen selbstbezogenen Hintergedanken zu entwickeln.
Wenn ihr abends müde aufs Sofa fallt und die Welt draußen vor eurem Fenster geistig verbannt, schwebt er noch immer durch die Straßen. Seht nur genau hin, seht das helle Weiß seines Umhangs, seht die großen Flügel, seht das freundliche Gesicht so voller Tatendrang, seht in diese gütigen blauen Augen! Er ist ein Engel, er muss es einfach sein!

Wieso schaut ihr mich nicht genau an?
Wieso blendet euch das Weiß so sehr?
Wieso bin ich dazu verdammt, Flügel zu tragen?
Der helle Umhang hängt an meinem Körper wie eine Zwangsjacke!
Setzt eine Sonnenbrille auf, dann seht ihr mich richtig!

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Samstag, 19. April 2008
Der eigene Weg
Sein Atem ging schnell, die verkrampfte Stirn war deutlich sichtbar.
Er stand jetzt vor dem Tisch, während sein Gegenüber saß und ihn mit Irritation ansah.
Eine schnelle Handbewegung schlug das Wasserglas vom Tisch.
Es flog einige Meter weit und zersprang an einer Kommode.
Seine Stimme klang tiefer als sonst, ein Zeichen für seinen ungewohnten Ernst.
„Du willst mir sagen, wie ich mich zu entscheiden habe?“
Der sitzende Mann blieb stumm. Der stehende wiederholte seine Frage schreiend.
„Du willst mir sagen, was ich tun soll?
Wieso zum Teufel glaubst Du, dass ich Dir vertrauen kann?
Wieso zum Teufel denkst Du, dass Du etwas wüsstest, was mir hilft?"
Ein Tritt gegen den Stuhl ließ diesen krachend am Tisch anschlagen, der schmerzende Fuß interessierte den stehenden Mann nicht.
Er sah zur anderen Seite des Tisches, wo sein Gegenüber saß und ihn weiter wortlos und leer anblickte.
Der stehende Mann wusste: Dieser andere Mann wird dort noch sehr lange sitzen.
Er musste mit ihm leben, aber vertrauen wird er ihm niemals.

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Donnerstag, 10. April 2008
Der Mann im Park
Vorbemerkung:
Die folgende kleine Geschichte habe ich vor etwa drei Jahren geschrieben und später nur ein wenig überarbeitet.
Sie ist damit eine der ersten Kurzgeschichten von mir.
Warum ich sie bisher noch nicht veröffentlicht habe, kann ich nicht genau sagen, ich fand sie wohl eher schlecht.
Mittlerweile denke ich aber, dass sie ein bestimmtes Lebensgefühl ganz ordentlich zum Ausdruck bringt, und daher stelle ich sie jetzt doch online.

Der Mann im Park

Als der Mann an diesem Abend den Park betrat, war es schon ziemlich spät.
„Normalerweise kommt er doch immer eine Stunde früher“,
dachte die alte Frau am Fenster gegenüber.
„Ob ihm diesmal irgendetwas dazwischen gekommen ist?“
Trotzdem ging der Mann wie gewöhnlich weiter, schaute weder
links noch rechts, und setzte sich auf die Bank in der Mitte, direkt neben den Mülleimer.
Einige andere Leute tauchten auf und verschwanden gleich wieder.
Sie gingen an dem Mann vorbei, als ob sie ihn nicht sehen konnten.
Doch auch der Mann schien wenig Notiz von Ihnen zu nehmen,
er schaute nur immer geradeaus.
„Was denkt er bloß?“, fragte sich die alte Frau.
Endlich rührte sich der Mann und nahm eine Zeitung aus der Tasche.
Doch anstatt sie zu lesen, warf er sie in den Papierkorb.
„Vielleicht wartet er ja auf jemanden“, mutmaßte die alte Frau.
Da fiel ihr ein, dass sich noch nie jemand zu dem Mann auf die Bank gesetzt hatte.

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Freitag, 28. März 2008
Klogedanken
Ein Empfinden, welches in seiner Widerwärtigkeit mit neutralem Gesichtsausdruck nicht zu ertragen ist und permanent den Wunsch nach dem Moment seines Verschwindens hervorruft, fesselt sie geradezu an ihr Klo. Sie kniet davor, zwei weiße Hände krampfen sich um den Rand. Ihre langen blonden Haare hängen übers Gesicht bis zum Wasser, ihr Kopf zuckt dabei ruckartig von links nach rechts. Viel Geld würde sie in diesem Moment geben, um gefühllos zu sein.
Ein kurzes, leicht stotterndes Würgen, sicher auch von außerhalb des Bads gut hörbar, dann schießt ihr Mageninhalt durch den Mund und besprenkelt das Porzellan. In ihrem Bauch breitet sich gefühlte Erlösung aus, endlich.
„Eine Art negativer Orgasmus“, denkt sie und ihr wird klar, was sie vor wenigen Stunden getrunken hat.
Schnell kehrt das Gefühl des Ekels zurück, schnell wird sie einen weiteren Teil des Alkoholgemisches los, wegen dem sie ihren Nachhauseweg nur mit Unterstützung eines Freundes geschafft hat. Sie zieht die Spülung, und noch während das Wasser läuft, übergibt sie sich erneut.
Ihre Haare sind jetzt bis zur Hälfte nass, Schweiß steht auf ihrer Stirn und Tränen in ihren Augen. Die Schuld an der momentanen Lage liegt allein bei ihr. Sie verträgt nicht viel, und doch folgte dem Sekt der Tequila, und dem Tequila folgte Wodka.
Gesucht hatte sie Ablenkung, nun bereut sie ehrlich.
Ihre Freundin Anja wurde gestern 25, natürlich war sie eingeladen.
Vor dem Studium wäre eher der Mond auf die Erde gefallen, als dass die beiden sich einen Tag nicht sehen oder wenigstens hören konnten. Hätte eine für die andere Tagebuch geschrieben, keinem Leser wäre es aufgefallen.
Wieder muss sie würgen, aber aller Alkohol ist mittlerweile draußen, der Rest im Blut.
Sie will Klopapier, um sich den Mund damit abzuwischen, kommt mit der Hand nicht ganz bis zur Rolle, steht auf, taumelt sogleich und kniet sich wieder hin.
Anja hätte vorhin in der Bar fragen müssen, ob sie mit ihr aufs Klo kommen wollte.
Doch Anja tat es nicht, sie ging alleine. Da wurde ihrer Freundin klar: Wir haben uns entfremdet.
„Wer ist schuld? Sie, ich, das Studium? Wie eng kann die Freundschaft gewesen sein, wenn der Drang zu ihrem Weiterführen nicht stark genug ist, um räumliche Entfernung auszugleichen?“
In ihrer jetzigen Situation hätte sie früher zum Handy gegriffen und Anja angerufen. Gerade fällt es ihr schwer, sich überhaupt zu erinnern, wo ihr Handy steckt.
Anja wäre sofort vorbeigekommen und hätte die Nacht neben ihr am Klo verbracht. In den Kotzpausen hätten sie geredet und gelacht.
Über Kleider und darüber, wer sie tragen kann und wer nicht (kein Lästern, nur Feststellen). Über die Frage, welche Opfer Liebe von einem fordern darf. Über Carries Schuhsammlung in Sex and the City. Und natürlich über ihren Ex Tobias. Da hätten sie ihre „Ein Leben ohne Tobi ist besser, weil…“ – Liste um viele Punkte erweitern können.
„Was geht heute in diesem hübschen, von schulterlangen schwarzen Haaren umrahmten Kopf vor, was will sie vor mir verstecken?“
Sie würgt, die Magensäure verbittert den Geschmack.
„Wo ist ihr eigentümlicher, verständnisvoller Blick, oder anders gefragt: Wer bekommt ihn jetzt?“
Es gab keinen Streit, keine bewusste Trennung.
Es gab nur weniger oft „Anja“ auf dem Handy-Display und ein Tagebuch mit Codewort, das ihre Freundin nicht mehr kannte.
Nach Abschluss dieses Gedankens zieht sie ihren Kopf aus dem Klo und atmet durch.
Sie weiß: Die Chance, es noch bis zum Bett zu schaffen, ist verschwindend gering.
Also schläft sie hier im Bad, und wenn sie morgen aufwacht, werden diese ganzen albernen Gedanken nur noch belächelt.
„Freundschaften kommen und gehen, so ist das eben.“

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Dienstag, 18. März 2008
Ein Platz zum Sitzen
Nicht weit entfernt, da betritt ein kleiner Mann die Kneipe, in der er noch nie zuvor war. Er steht für einen Moment im Eingangsbereich und sieht sich um. Hose und Hemd sind ungefähr zwei Nummern zu groß, aber wen stört das hier schon? Die Decke ist niedrig, es gibt nur wenige, schwache Lampen. An den Wänden hängen Bilder mit Hirschen auf Wiesen, auf Hügeln oder im Wald.
Der Mann zählt sechs Tische, an jedem sitzen mindestens zwei Personen. Alles ist aus dunklem Holz: Tische, Stühle, die Wände.
Stimmen vermischen sich mit Schlagermusik zu einem akustischen Brei, der durch den Raum wabert wie Rauchschwaden.
Der Wirt entdeckt den Mann und winkt ihn zu sich heran.
Keine Reaktion.
Nach erneutem Winken macht der Mann zögerliche Schritte in Richtung Tresen und stellt sich neben einen Barhocker.
Er bittet um Apfelsaft und verbringt viel Zeit damit, in die trübe Flüssigkeit zu starren.
Ein Mann mit Vollbart und ungekämmten, schulterlangen Haaren will wissen, warum der kleine Mann alleine am Tresen steht.
Der überlegt und fängt danach mit monotoner Stimme an zu sprechen, weiter mit dem Apfelsaft im Fokus.
„Ich muss stehen, weil ich keinen Ort mehr kenne, an dem ich gerne sitzen würde. Es gab mal einen Ort, wo ich das Sitzen mochte, aber sie haben mich von da vertrieben.“
Sein langhaariger Sitznachbar erkundigt sich nach dem Name des Ortes, doch der kleine Mann steht nur wortlos auf und geht zur Tür.
Kurz vor dem Ausgang dreht er sich um und schaut erneut in den Raum.
„Auch wenn die Decke höher, das Licht heller und die Wände mit geschmackvollen Bildern behangen wären, wenn sie mir zum Empfang ihre offenen Armen entgegenstrecken würden oder Münzen in meine Taschen steckten, ich könnte mich hier niemals hinsetzen.“
Dann verlässt er die Kneipe und tritt hinein in eine dunkle Nacht.

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Dienstag, 11. März 2008
Angekettet
Der Moment, den sie sieben Monate herbeigesehnt hatte, erschien für sie trotz ihrer zutiefst empfundenen Freude unwirklich:
Sie wollte mit Steve doch nur ins Kino, zu einer dieser romantischen Komödien, über deren vorhersehbare Handlung es in Hollywood eine Art Dogma geben musste. Steve hatte eingewilligt, mit ihr zu gehen („Weil Du es bist").
Gerade legte sie das fünfte Mal Hand an ihr Make-Up und verfluchte ihren Lippenstift, dessen Rot definitiv zu intensiv war, da klingelte es an der Tür. Zu früh für Steve, und doch stand er draußen. Ob er reinkommen dürfe, fragte er sie mit der Stimme, die er immer bekam, wenn er ihr etwas Wichtiges sagen wollte, was ihm aber aus unterschiedlichen Gründen schwer fiel.
„Klar“, erwiderte sie mit einer Mischung aus Verwunderung und Erwartung. Ein kurzes Zögern, ein unsicheres Lächeln, dann trat er ein. „So ein Auftreten ist überhaupt nicht seine Art“, dachte sie.
Als sie ihn vor sieben Monaten kennengelernt hatte, befand er sich – umringt von einem Kreis begeisterter Zuhörer - in der Mitte einer Bar auf einem Stuhl und hielt eine Lobrede auf ihren und seinen Kumpel Alex, der ihnen gerade von seiner anstehenden Hochzeit erzählt hatte.
Spontan war Steve aufgesprungen und konnte seine ohnehin schon stattliche Statur noch überhöhen, in dem er auf den Stuhl stieg. Doch was ihn damals wirklich groß machte, waren seine Worte. In sie legte er dank blitzblanker Rhetorik so viel Glaubwürdigkeit, dass selbst Marc Anton neidisch geworden wäre. Als er wieder auf den Boden zurückkehrt war, wollte sie, dass er das nächste Mal, wenn er auf einem Stuhl eine Rede hielt, dabei nur an sie dachte.
Jetzt kniete er vor ihr auf dem Boden, seine Gedanken waren gewiss ausschließlich bei ihr. Eben hatte er sie als die Liebe seines Lebens bezeichnet, nun lief ihr, der glücklichsten Frau der Welt, eine kleine Träne die Wange herunter. Er blinzelte mit den Augen und fragte, ob sie bereit sei. „Sicher“, flüsterte sie zurück.
Ihr Hochgefühl hielt an, als er die Eisenkette um ihr rechtes Handgelenk schloss. Die Kette war kalt, unendlich kalt, doch sie wollte es so, denn das andere Ende der Kette hing an ihm. Wenn sie mit ihren Freundinnen telefonierte, musste sie dazu den linken Arm benutzen, da ihr das Anheben des rechten schwer fiel, aber riet eine Freundin ihr deswegen, die Kette zu entfernen, dann erwiderte sie nur: „Rede nicht sowas, Du Dummchen, das gehört dazu.“ So verschwand das Gefühl der Schwere mit der Zeit und wurde durch Gewohnheit ersetzt. Überhaupt tat ihr die Kette viel weniger weh, wenn sie sich den Bewegungen von Steve nicht widersetzte. „Er ist doch sowieso stärker. Das muss so sein. Er ist der Mann.“
Hatte sie anfänglich noch ein wenig gegengehalten, so lernte sie bald, seine Wünsche zu lesen, ohne dass er den Arm bewegen musste. Natürlich schnitt ihr die Kette auch ohne Steves Ziehen in die Haut, aber das Blut ließ sich leicht wegwischen. Und wenn sie ihn befriedigte (dass sie dabei oben zu liegen hatte, las sie ihm bald von den Lippen ab), legte sie sich die Kette um den Hals, damit ihn das kalte Metall nicht störte.
Einmal kündigten sich ihre Eltern zum Besuch an. Da bat Steve seine Freundin, die Kette vergolden zu dürfen, damit sie schöner aussah.
Er lächelte sie an. Sein Lächeln enthielt genug Kraft, um damit alle Übel der Welt zu verbannen.
„Eine ganz wunderbare Idee hast Du da, mein Engel.“
Also saß sie kurze Zeit später neben Steve auf der Ledercouch des Wohnzimmers, dazwischen eine goldene, glänzende Kette, und ihnen gegenüber ihre Eltern, die an Steves Lippen hingen. Er erzählte von der Baumdichte des brasilianischen Regenwaldes, von der Siedetemperatur flüssigen Kerzenwachses und vom Vollkorngehalt seines bevorzugten Toastbrotes, und alle drei waren von Herzen dankbar, seinen Worten folgen zu dürfen.
Beim Gehen nahm ihre Mutter sie kurz beiseite.
„Du weißt bestimmt, dass Du Dich unendlich glücklich schätzen kannst, so einen Mann kennengelernt zu haben. Lass ihn nie wieder los mein Schatz! Hörst Du, Du darfst ihn nie wieder los lassen!“
„Ich wäre so dumm, wenn ich das täte“, dachte sie, als sie ihrer Mutter zum Abschied noch einmal zuwinkte.
Mittlerweile wohnen Steve und sie in einer anderen Stadt, weil sein Beruf es nicht anders zuließ. Sie ist sich sicher, dass er ihr bald den Antrag machen wird, auf den sie wartet.
„Für Dich warte ich, Steve, für Dich warte ich für immer“, flüstert sie oft, wenn sie abends neben ihm liegt und er schon fest schläft. Oder wenn sie seinem Wunsch nachgibt, sich vor ihm auf die Knie zu werfen.
Sie tut das gerne, denn sie liebt ihn, und er liebt sie ja auch.

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Montag, 3. März 2008
Den Blick geradeaus
„Nach vorne Junge, immer nach vorne!
Abseits davon existiert nichts von Bedeutung, weder links noch rechts.
Umsehen erfordert Energie, die Du effizienter einsetzen könntest. Umsehen führt zu Opportunitätskosten, die Du vermeiden musst.
Wem sehen die Leute lieber zu?
Dem, der zögert, langsamer wird, stehen bleibt?
Oder dem, der strammen Schrittes in eine Richtung geht, die er kennt?
Letzterer wird zum Vorbild für die zaudernden Massen, sie verlangen danach, glaube mir!
Dann wird niemand mehr den Kopf drehen oder stehen bleiben müssen, denn alle laufen geradeaus.
Ich bin Realist, daher gebe ich zu: Einige werden es nicht schaffen und weiter stehen bleiben.
Aber wen kümmert das, wenn die die Mehrheit nicht mehr da ist, um von denen zum Zögern verleitet zu werden?
Nach vorne Junge, immer nach vorne!“

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