Sonntag, 25. Februar 2007
Das Leben hinter dem Gesicht
Es war sein Glück, dass ihn eine Kugel in den Kopf traf.
Jedenfalls haben das später seine Kameraden gesagt.
So spürte er nicht mehr, wie die anderen ihm den Bauch zerfetzten, sondern fiel einfach hinten über, mit dem leicht überraschten Gesicht nach oben.
Es gab in diesem Krieg einige, die ihn um seinen schnellen Tod beneideten.
„Sieh es Dir an, sie haben Harry die Kugel direkt neben seine Narbe gesetzt.“
Eigentlich hieß er gar nicht Harry, das war nur sein Spitzname, den sie ihm wegen eben dieser Narbe verpasst hatten.
Die Narbe hatte er bekommen, da musste er so um die sechs Jahre alt gewesen sein.
Der Grund war ein Bonbonglas, welches ganz oben stand, auf dem höchsten Regal in der Küche.
Ihm war bewusst, dass er zu klein war, um da jemals ranzukommen. Doch mit Papas Spazierstock und dem Willen, sich so weit zu strecken, wie es nur irgendwie möglich war, gelang es ihm, das Bonbonglas vom Schrank zu holen.
Dass es ihm dabei direkt auf die Stirn fiel, brachte seine Mutter in diesem Moment zwar zum Weinen,
er hingegen wunderte sich nur, dass es nicht zerbrochen war.
Die Narbe auf der Stirn jedenfalls erinnerte ihn von da an immer daran, dass man sich für viele Bonbon-Gläser im Leben eben strecken musste, wenn man sie bekommen wollte.
Abgesehen davon ließ es sich mit dieser Narbe wunderbar prahlen. Nicht zu stark, denn ein Angeber wollte er nie sein. Aber so ein bisschen musste es schon erlaubt sein, davon war er überzeugt. Vor den Kumpels sowieso, aber etwas später vor allem vor den Mädchen. Dann kam die Narbe wahlweise von einem Motorradunfall oder einer Schlägerei, bei der er einen Verbrecher, der seiner Oma die Brieftasche klauen wollte, in die Flucht schlagen konnte. Allerdings nicht ohne Spuren davon zu tragen, versteht sich. Als seine erste Freundin jedoch einmal alte Kinderfotos von ihm in die Hände bekam, auf denen die Narbe schon deutlich zu sehen war, hatte diese junge Beziehung ihr Ende erreicht. Einen dummen Lügner wurde er von ihr genannt.
„Nun denn“, dachte er sich, „wenn die Narbe der einzige Grund war, weswegen sie mich mochte, dann soll die doch zur Hölle fahren!“. Zumindest versuchte er, sich das einzureden. Natürlich war das Verdrängen in Wirklichkeit schwieriger für ihn, aber zugegeben hätte er das nie. Außerdem gab es an der Sache auch eine gute Seite:
Er konnte sich jetzt wieder mehr seinen Freunden widmen, besonders seinem besten Kumpel Tim. Den kannte er schon aus dem Sandkasten, und er war auch der erste, der Harry im Krankenhaus besuchte, nachdem ihm das Bonbonglas auf den Kopf gefallen war. So wuchs ihre entfremdete Freundschaft auch schnell wieder, nachdem Harry von seiner ersten Freundin verlassen wurde.
Es war die Art von Freundschaft, bei der man die Antworten des anderen schon kennt, bevor dieser sie gibt.
Das Besondere dabei ist jedoch, dass man sie sich trotzdem immer wieder gerne anhört, weil jedes Mal die Möglichkeit besteht, dass noch ein wenig Neues dabei ist. Nur bei dieser Art von Freundschaft können beide mit einem Bier auf der Couch sitzen, die eigentlich billige alte Lieblingsserie gucken und dabei kaum reden, ohne dass es für einen von beiden unangenehm ist.
„Weißt Du Harry, eigentlich sollten wir heiraten, aber leider sind wir nicht schwul.“
Deshalb entwickelte sich bei beiden mit Zeit auch wieder das Interesse an den Frauen. Tim handhabte seine Beziehungen eher liberaler, wie er immer zu sagen pflegte. Harry hingegen verschoss sich in ein Mädchen, in das eine Mädchen.
Sie hatte zwar kein Interesse an einer Beziehung mit ihm, doch verstand sie es hervorragend, ihm in wenigen Momenten das Gefühl zu geben, dass er eine Chance hätte. Zumindest sah seine Interpretation so aus. Nach einem Jahr des Gefühlschaos lag Harry dann auf dem Fußboden in Tims neuer Wohnung und weigerte sich, wieder aufzustehen.
„Junge, sie ist das Bonbonglas, also strecke Dich verdammt nochmal ein wenig, um an sie ranzukommen….Aber lass sie Dir nicht auf den Kopf fallen, sonst gibt es die nächste Narbe…“
Doch erst nach drei weiteren langen Monaten, als er alleine und äußerst frustriert auf dem dunklen Hinterhof einer Disco stand, wobei ihm der Regen egal war, da durfte er endlich den Moment erleben, an dessen Erfüllung er mittlerweile nicht mehr glaubte.
Sie kam zu ihm raus, und ohne ein Wort zu sagen küsste sie ihn auf den Mund.
Zwar verstand er nie, was sie zu diesem Sinneswandel bewogen hatte, aber war das nicht egal?
Leider blieb ihm nicht die Zeit, die er sich für seine neue Beziehung erhofft hatte, denn Tim brauchte seine Hilfe.
Nach Abschluss der Schule musste er eine abgelehnte Bewerbung nach der anderen hinnehmen, und auch wenn er nach außen hin so tat, als würde ihm das nicht viel ausmachen, so wusste Harry als sein bester Freund lange bevor Tims Maske endgültig zusammenbrach, dass ihn die Ablehnungen wirklich trafen.
War es dieser Umstand, der Tim auf die Idee brachte, zum Militär zu gehen?
Für Harry jedenfalls wurde schnell klar, dass er ihn dort besser nicht alleine lassen sollte.
„Pass auf, wir machen das zusammen, aber auf unsere Art.
Die Grundausbildung ziehen wir durch, es wird hart, aber wir schaffen das. Und anschließend studieren wir da irgendwas Technisches, damit wir nicht komplett verblöden.“
In zwei simplen Sätzen konnte Harry den kompletten Plan für die nächsten Jahre skizzieren. Die Begeisterung seiner Freundin hielt sich naturgemäß in Grenzen, doch versprach er, sie während der Grundausbildung jeden zweiten Tag anzurufen und danach so oft zu besuchen, wie es ihm möglich war.
So kämpften sich beide durch die ersten Monate beim Militär und sie hätten gelogen, wenn sie behauptet hätten, dass es nicht hart war. Doch immer wenn einer von beiden vor der Aufgabe stand, konnte der andere ihn wieder hochziehen.
Und wenn sie abends vor Erschöpfung nicht gleich in ihre Betten fielen, spielten sie Schach oder lasen in den Büchern, die Harrys Freundin ihnen schickte.
„Damit Du mich noch mit einem ganzen Satz begrüßen kannst, wenn Du wiederkommst.“
Die Ausbildung schritt weiter voran, wobei beide mehr und mehr merkten, dass sich die Waffen besser in den Händen anfühlten als die Bücher. Auch verschmolzen sie mit den anderen Jungs von Tag zu Tag weiter zu einer Einheit, die Sicherheit und Unterstützung bot, das Schach spielen und Lesen überflüssig machte und die einsamen dunklen Flecken im Inneren, mit denen sie alle zum ersten Mal die Kaserne betraten, verschwinden ließ. Am Ende landeten Harry und Tim in keinem Vorlesungssaal, sondern im Häuserkampf in einem staubigen Land, dessen Einwohner auf diese Weise die Demokratie lernen sollten. Sie mussten töten, und dazwischen schrieb Harry Briefe an seine Freundin, die sie jedoch nie öffnete.
Oder er füllte zusammen mit Tim Sand in das Bonbonglas, das er aufgehoben und mitgenommen hatte, immer ein wenig von jedem Ort, an den sie geschickt wurden. Als das Glas eines Abends voll war und diese Beschäftigung damit zu Ende, warf Tim es frustriert gegen eine Felswand, an der es zersplitterte.
Es war der Abend vor ihrem bisher größten Einsatz, der Stürmung eines Stadtteils, in dem die Aufklärer Terroristen ausfindig gemacht hatten.
Sie saßen beide nebeneinander auf dem sandigen Boden, gelehnt an eine Felswand, die Scherben überall um sie herum verteilt.
Keiner von beiden sah den anderen an, stattdessen richteten sich ihre Blicke in die leere Ferne und damit vielleicht auf die Heimat, die sie dort vermuteten.
Harry brach als erster das Schweigen, welches jedoch weder er noch Tim als unangenehm empfanden.
„Weißt Du eigentlich noch, warum wir hier sind, und nicht zu Hause?“
Tim vergrub die rechte Hand im Sand.
„Na für unser Land, Du Idiot. Hast Du etwa nicht zugehört?“
Harry buddelte einen kleinen Stein aus der Erde und warf ihn anschließend einige Meter weiter.
„Soll ich Dir mal was sagen?“ Wenn unser Land eine Frau wäre, und zwar eine, zu der Du eigentlich nicht nein sagen kannst.
Du weißt, was ich meine. Eine, die Deinen Verstand durch und durch vernebelt und einfach perfekt ist.“
An dieser Stelle wurde er von Tim unterbrochen.
„Dann würdest Du ihr jetzt trotzdem sagen: Raus aus meinem Bett, ich will Dich nicht mehr sehen, auch wenn sie nackt neben Dir gelegen hätte.“
Harry nickte. Anschließend begannen beide, spöttisch zu lachen.
Sehr bald jedoch wurden ihre Mienen wieder hart.
„Wenn wir morgen draufgehen“, fragte Harry, „was glaubst Du fühlt man dabei?“.
Tim steckte sich eine Zigarette an.
„Schätze, wir haben Glück, denn eigentlich sind wir längst tot, wenn Du verstehst, was ich meine.“
Damit hatten beide alles gesagt, was zu sagen war.
Die Sonne ging unter, während beide ihr dabei zusahen, wie sie es immer am Vorabend eines Kampfes taten.
Später wurde Tim klar, dass Harrys Blick an diesem Abend besonders lange gen Sonne gerichtet war.
Auf Harrys Beerdigung gab seine Ex-Freundin Tim einige der Briefe, die Harry während des Krieges an sie geschickt hatte.
Sie waren an Tim gerichtet, für den Fall, dass er alleine nach Hause zurückkehren würde.
So wurde ihm bewusst, wie sehr Harry an dem Abend seines letzten Sonnenunterganges auch innerlich noch lebte.
Nachdem Tim sie gelesen hatte, wusste er, dass er das Bonbonglas seines Lebens wieder zusammensetzten wollte.
Es würde schwer werden und nie wieder so heil aussehen wie früher, doch mit Harrys Hilfe konnte er es versuchen.

... link (2 Kommentare)   ... comment


Dienstag, 20. Februar 2007
Bleib noch!
Beim Anziehen musste er sich dieses Mal mehr beeilen als gewöhnlich, da einige Termine auf ihn warteten. Sie lag noch neben ihm, nackt, und blickte an die Decke.
Da er ihr seinen Rücken zugewandt hatte, bekam er nicht mit, wie sie ihren Blick von der Decke löste und auf ihn richtete, nur um ihn in dem Moment, in dem er aufstand, wieder auf die Zimmerdecke zu konzentrieren.
„Hast Du heute wieder wichtige Termine?“
Beim Umbinden seiner Krawatte hielt er kurz inne.
„Ja, ich bin in Eile. Ist es in Ordnung, wenn ich Übermorgen wiederkomme?“
Sie zog die Bettdecke weiter nach oben.
„Das geht in Ordnung, denke ich.“
Er war schon an der Tür, als es ihm einfiel.
„Sorry, das habe ich doch fast vergessen.“
Nun befand sich das Geld an der üblichen Stelle, neben der Nachttischlampe.

Als er gegangen war, zog sie die Decke beiseite und lief Richtung Badezimmer.
Sie hatte entschieden, dass anschließend noch genügend Zeit war, um das Bett zu machen.
Die Dusche half ihr mittlerweile kaum noch dabei, den Schmutz, der unsichtbar an ihrem Körper hing, zu beseitigen. Eigentlich hatte sie sich auch an ihn gewöhnt.
Sie konnte sich nicht vorstellen, eine andere Arbeit zu haben, hatte ja auch nie etwas anderes gekannt. Außerdem verstand sie etwas von ihrem Job, was sich auch anhand der großen Zahl ihrer Kunden zeigte.
Nachdem sie mit dem zweiten fertig war, und er noch für einen Moment neben ihr lag, da stellte sie ihm eine Frage, die er sicherlich nicht erwartet hätte.
„Bleibst Du noch einen Moment?“
Er neigte seinen Kopf kaum zur Seite.
„Was hast Du gesagt?“
Ihre Stimme klang nun etwas schwächer.
„Willst Du noch einen Moment hier bleiben?“
Verwunderung zeichnete sich in seinem Gesicht ab.
„Wie kommst Du auf so was?“
Sie strich sich die Haare aus dem Gesicht.
„Ich dachte nur, dass wir vielleicht…na ja…ein bisschen reden könnten…einfach so…“
Das Verlassen des Bettes begleitete er mit einem leisen Lachen.
„Muss ich dafür extra zahlen?“

Natürlich hatte er nicht mit ihr geredet. Nachdem er weg war, ging sie wie so oft in das kleine Zimmer, in das sie noch nie einen Mann hinein gelassen hatte.
Vor dem schmalen Fenster, welches einen hübschen Ausblick auf den Park vor dem Haus bot, stand wie immer der alte Sessel, den sie von Zuhause mitgenommen hatte. Sie erinnerte sich noch genau an den Satz, den ihre Mutter damals zu ihr sagte. „Nimm ihn mit, denn Du wirst ab und zu etwas Entspannung brauchen.“
Bis zu dem Tag, an dem ihre Mutter starb, hatten beide täglich telefoniert.
Ihr fehlte das, doch wusste sie sich zu helfen.
Einmal am Tag setzte sie sich in den alten Sessel, nahm das Telefon und wählte eine beliebige Nummer. Oft legte ihr Gegenüber am anderen Ende der Leitung sofort wieder auf, wenn sie ihm erklärte, dass sie nur etwas reden wollte.
Aber manchmal, da hatte sie Glück.
Man ließ sie reden, oder noch besser: Man hörte ihr zu.

... link (2 Kommentare)   ... comment


Montag, 19. Februar 2007
Frühes Comeback
„Es heißt doch gelegentliche Sicht der Dinge. Nicht tägliche oder wöchentliche. Also schreib gelegentlich mal wieder. […]“ (Kommentar von byggvirofbarley)

"Dir wird`s doch schon bald in den fingern jucken und dann musst du einfach wieder was schreiben.
es muss ja auch nicht so regelmäßig sein..."
(Kommentar von Ludi)



Als ich diesen Blog am 10. Januar beenden wollte, geschah dies vor allem, weil ich das Gefühl hatte, alles gesagt zu haben.
Dass diese Annahme falsch war, stellte sich schon einige Tage später heraus. Denn selbst wenn man alles geäußert hat, was einem wichtig ist, dann gibt es immer noch Wege, es auf eine andere Art auszudrücken. Und wer weiß, vielleicht erreicht man dann sogar mehr Menschen als zuvor.
Allerdings werde ich mich von nun an mehr am Titel dieses Blogs orientieren.
Soll heißen:
So viele Veröffentlichungen wie früher wird es nicht mehr geben.
Von nun an ist es hier ruhiger, aber hoffentlich nicht weniger interessant.

... link (5 Kommentare)   ... comment


Mittwoch, 10. Januar 2007
The End
Ich habe diesen Blog im Spätsommer 06 zwar aus purer Langeweile begonnen, dabei jedoch die Absicht verfolgt, durch meine Weltsicht und bescheidenen Erfahrungen die Leser ein wenig aufzurütteln bzw. zum Nachdenken anzuregen.
Wie man anhand der Kommentare sehen kann, ist das in einigen Fällen auch gelungen.
An dieser Stelle nochmals vielen Dank für die zahlreichen Kommentare.
Bekanntlich soll man aber aufhören, wenn es noch wenigstens ein anderer Mensch bedauert.
Deswegen wird dieser Blog mit dem heutigen Tag erstmal beendet.
Schließlich möchte ich nicht den Fehler machen, meine Leser durch ständige Wiederholungen derselben Aussagen zu langweilen.
Ich habe in den letzten Monaten alles in Gedanken oder Kurzgeschichten gefasst, was ich loswerden wollte.
Schön, dass es im Internet die Möglichkeit dafür gibt.
Noch schöner, dass es ein paar Menschen interessiert hat.
Im Moment kann ich nicht sagen, ob und wann es eine Fortsetzung geben wird.
Wer möchte, schicke eine Mail an 007tobi@gmx.de.
Ich werde denjenigen dann benachrichtigen, wenn es weitergehen sollte.
Alle neuen Leser möchte ich aber auch begrüßen und ihnen wünschen, dass sie sich ein wenig Zeit nehmen (ich weiß, davon hat der moderne Mensch viel zu wenig…), um den einen oder anderen Beitrag hier zu lesen und vor allem darüber nachzudenken.
Was ich noch sagen möchte:
1) Habt den Mut, Euch Eures eigenen Verstandes zu bedienen, aber vergesst das Fühlen dabei nicht.
2) Nur, weil die Welt schlecht ist, heißt das nicht, dass man selbst ein weiterer schlechter Teil davon werden muss.
3) Lieben heißt Leben.
4) Life is a bitch. You have to fuck her.

Vielen Dank für Eure Aufmerksamkeit.

... link (5 Kommentare)   ... comment


Samstag, 6. Januar 2007
Ihr bester Freund
„Mama, müsst ihr heute Abend ins Theater gehen?
Könnt ihr nicht einfach hier bleiben und fernsehen?“
Ihre Mutter beugte sich zu ihr runter und streichelte sie über den Kopf.
„Schatz, Ich habe Dir doch erklärt, dass Theater etwas ganz anderes ist als Fernsehen, und das wollen Papa und Ich eben auch ab und zu haben.
Ihr kleines Gesicht wurde trotzig, aber das nahm ihrer Mutter nicht das Lächeln.
„Außerdem passt doch Onkel B. auf Dich auf. Also, bis morgen mein Schatz.“
Sie küsste ihre Tochter auf die Stirn, erhob sich, und wandte sich vor dem Gehen noch kurz an ihren Bruder.
„Achte bitte darauf, dass die Kleine nicht zu lange wach bleibt, sie ist sehr müde.
Alles andere kennst Du ja.“
Ihr Bruder nickte wissend mit dem Kopf.
„Wünsche euch viel Spaß im Theater ihr zwei.
Und wir beide werden den Abend schon rumkriegen, nicht wahr?“
Mit ihren gerade mal zehn Jahren war sie schon dazu gezwungen, über einige Dinge nachzudenken, die andere in ihrem Alter nicht in Frage stellten.
Freundschaft gehörte z.B. dazu. Sie hatte einige Freunde, die meisten gingen in ihre Klasse oder wohnten nebenan. Leider verlor sie in letzter Zeit immer mehr von ihnen. Es lag wohl daran, dass sie nicht mehr mit ihnen spielen wollte.
Sie konnte das nicht genau erklären, aber es fehlte irgendwie der Antrieb.
Onkel B. hatte ihr beigebracht, was Freundschaft bedeutete. Man muss den anderen kennen, gut kennen, sich mögen und vor allem aufeinander aufpassen.
Vertrauen nannte er das immer.
„Du vertraust mir doch, oder Süße?“
Sie antwortete jedes Mal mit ja, aber irgendwie viel ihr das immer schwerer.
Von Onkel B. lernte sie auch, dass zur Freundschaft Geheimnisse gehören.
„Wir beide sind Freunde, und deshalb vertraue ich Dir, dass Du unsere Geheimnisse hütest. Schließlich wollen wir doch für immer Freunde bleiben, oder?“
„Ja, für immer“.
Nachdem ihre Mutter vom Theater zurückkam, ging sie jedes Mal vor dem Schlafengehen noch einmal in das Zimmer der Kleinen. Sie freute sich immer, wie friedlich ihre Tochter bereits schlief.
Erst fiel zu spät fand sie heraus, dass die Kleine meistens nur so getan hatte.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Mittwoch, 3. Januar 2007
Ein ehrlicher Tag
Er ging durch die Straßen und fragte sich, warum er das nicht schon öfters auf diese Weise getan hatte. Früher war er nur unauffälliger Teil der Masse gewesen, wie die meisten anderen, ohne Profil. Jetzt gab es keinen, der sich nicht umdrehte und ihm nach sah. Viele lachten, einige guckten verwundert, wenige verärgert.
Am meisten amüsierte ihn die Frau, die beim Becker hinter der Kasse stand und sich bei jedem einzelnen ihrer Worte enorm zusammenreißen musste, um nicht in lautes Lachen auszubrechen.
„Mama, der Mann hat ja gar nichts an…“
Nun darf man nicht auf die Idee kommen, dass er auch nur an einem Tag seines bisherigen 35-jährigen Lebens daran gedacht hätte, einmal für drei Stunden fast komplett unbekleidet seinen Alltagsgeschäften nachzugehen. Oder, anders gesagt:
Es auch wirklich in die Tat umzusetzen. Heute jedoch konnte er sich endlich überwinden. Wer ihn dabei richtig ansah, der musste bemerken, wie viel Spaß es ihm machte.
Als er anschließend wieder zuhause ankam, da fiel sein Blick auf das Bücherregal, was im Laufe der Jahre beträchtlich an Fülle gewonnen hatte.
Die meisten Bücher, die sich dort quetschten, kannte er nur vom Umschlag.
Er bereute, nicht mehr Zeit investiert zu haben, um sie auch wirklich zu öffnen.
Also nahm er sie aus dem Regal, eins nach dem anderen, und verstaute sie in seinem Rucksack. Anschließend ging er mit dem Rucksack und den Büchern nach draußen (diesmal angezogen) und verteilte die Bücher wahllos an Menschen, die ihm auf seinem Weg begegneten. Er wusste, dass viele die Bücher gar nicht erst annehmen oder später auch wirklich lesen würden. Doch trotzdem freute er sich über jeden, dem er so eine Chance eröffnen konnte, die diese Person sonst wohl nie bekommen hätte.
Er musste einige Male in seine Wohnung zurückkehren, bis sein Bücherregal wieder aussah wie an dem Tag, als er es gekauft hatte. Nachdem das letzte Buch seinen Besitzer wechselte, begann es schon leicht zu dämmern. Die Luft war klarer als gewöhnlich, und als er nach oben blickte, da entdeckte er keine einzige Wolke am Himmel.
„Wann habe ich eigentlich zum letzten Mal nach oben geblickt, ganz in Ruhe?“
In diesem Moment wurde ihm bewusst, was an diesem merkwürdigen Tag noch erledigt werden musste. Er lief einige Straßen weiter, zwar befreiter als sonst, aber je näher er seinem Ziel kam, umso schwerer wurde es für ihn.
Doch immer war er sich sicher, dass diese Gelegenheit nie wieder kommen würde.

Sie öffnete die Tür und schaffte es nicht lange, die Verwunderung in ihrem Blick zu überspielen. Für ihn war sie sofort wieder das Mädchen, in das er sich einmal verliebt hatte.
„Ich weiß nicht, warum Menschen so dumm sind, gewisse Dinge mit sich rumzuschleppen und in sich zu verschließen, anstatt einfach den Mund aufzumachen. Ich war dumm, all die Jahre, und deshalb erfährst Du es erst jetzt.
Ich habe mich in Dich verliebt, lange schon, und zwar nicht nur ein bisschen, sondern richtig.
Ich habe es Dir nie gesagt, weil ich zu viel Angst vor Deiner Antwort hatte.
Du bist das faszinierendste Mädchen, was ich jemals getroffen habe.“
Ihr Blick verwandelte sich nun in eine Mischung aus Verwirrung und ein wenig vom dem, was man als Reaktion auf ein Kompliment bezeichnen würde.
Sie behielt diesen Ausdruck noch einige Momente lang bei, auch nachdem er längst gegangen war.
Mittlerweile hatte die Nacht, welche genauso klar und mild war, wie sie sich ankündigte, den Tag vollends abgelöst.
Er lag nun in einem Liegestuhl und blickte nach oben, mitten hinein in die ganze Freiheit. Da er sich samt Liegestuhl auf dem Dach seiner Wohnung befand, konnte er das besonders gut.
„Ich habe heute nur wenig von dem geschafft, was ich vorhatte.
Trotzdem war das immer noch mehr als in den ganzen bisherigen 35 Jahren.“
Und so hörte er auf zu denken, sah noch ein wenig nach oben, bis ihm seine Augen zum letzten Mal zufielen, aber zum ersten Mal mit Zufriedenheit.

... link (2 Kommentare)   ... comment


Samstag, 30. Dezember 2006
Konsequentes Verhalten
...So, eine Woche ohne Dich überstanden…
...Letzte Nacht nicht mehr von Dir geträumt….
...Heute erst einmal an Dich gedacht…
...Wie egal Du mir geworden bist, so gleichgültig…
...Es gibt auch andere Prioritäten im Leben…
...Und vor allem andere Frauen…Eigentlich zickst Du mir eh zuviel rum…Dann geh halt zu einem anderen…Mir ist es egal…Dein Hintern ist sowieso zu dick…So eine wie Dich verdient mich gar nicht…Bald bist zu vergessen, und zwar ganz…

„Hey, wir gehen am Donnerstag ins Kino, bist Du dabei?“

„Klar, wann soll ich Dich abholen?“

... link (0 Kommentare)   ... comment


Mittwoch, 27. Dezember 2006
Weltflucht
Er riss seine Wohnungstür auf und stolperte hinein.
Später konnte er sich nicht mehr daran erinnern, wie er die Tür wieder geschlossen hatte, aber er musste sie kurz darauf wohl einfach zugeschmissen haben.
„Kaufen Sie jetzt, damit Sie später nichts bereuen!“
Zum ersten Mal nach langer Zeit stand ihm Schweiß auf der Stirn, er war kalt.
Er ließ seine Tasche fallen und wankte zur Couch, um sich der Länge nach hinzulegen, seine Jacke behielt er an.
„Wir versorgen Sie rund um die Uhr mit den neuesten Nachrichten.
Wenn es drauf ankommt, auch im Sekundentakt!“
Sein Blick fiel auf die Tageszeitung, die vor ihm auf dem Tisch lag.
Das Titelblatt war gefüllt mit Schlagzeilen, die nur die Oberfläche bildeten.
Er war sich sicher, dass er sie sofort weggeschmissen hätte, aber in diesem Moment fehlte ihm dazu die Kraft.
„Millionen von Songs warten auf Sie, einen für jeden Moment Ihres Lebens.“
Von draußen drang ein Fetzen Musik zu ihm hinein, sicher verursacht durch ein vorbeifahrendes Auto.
Jede Note griff ihn an, sodass er sich seine Ohren zuhalten musste.
„Meeting ist heute um 12, das Essen um 15 Uhr. Bitte seien Sie pünktlich dort, Sie kennen ja die Wichtigkeit. Außerdem soll ich Sie noch fragen, ob Sie heute Abend mit in die Oper gehen wollen.“
Nun merkte er, dass er unbequem lag. Also zog er das blinkende Handy aus seiner Hosentasche und warf es durch den Raum. Dass es dabei gegen den Bildschirm seines Fernsehers flog und dort deutliche Spuren hinterließ, war ihm egal.
Bald wurde der Lärm von draußen ruhiger, sein Atem legte sich und der Schweiß verschwand. Zum ersten Mal, so dachte er, hatte er wieder Zeit, nach Innen zu hören.
Er tat das, und dabei kümmerte es ihn nicht, wie viel Stunden er liegend auf der Couch verbrachte und auf diese für ihn fremd gewordene Welt im Inneren hörte.
Es kam ihm vor, als könnte er endlich an einen Ort zurückkehren, dem er schon lange fern geblieben war.
Ihm gelang es, ganz langsam wieder eine Art Vertrautheit zu den lange Zeit verdrängten Dingen aufzubauen, doch die Reise endete viel zu schnell mit dem Klingeln seines Handys.

... link (1 Kommentar)   ... comment


Sonntag, 24. Dezember 2006
Stille Nacht
Wieso immer auf den letzten Drücker?
Heilig Abend ist jedes Jahr am 24., theoretisch hatte er also 365 Tage Zeit, um ihr ein Geschenk zu kaufen.
„In den letzten Wochen gab es einfach zu viel Stress, die ständige Beobachtung vom Chef, die ganze Arbeit zuhause…“
Er drückte das Gaspedal weiter nach unten.
„Wenigstens kann ich jetzt so schnell fahren, wie ich will.
Das ist der Vorteil, wenn man ohne weibliche Begleitung im Auto sitzt…“
Doch zahlreiche rote Ampeln und vor allem ein immer heftig wehender Schneesturm verlangsamten seinen Weg.
„Sie mag den Schnee. Bestimmt sitzt sie jetzt zuhause am Fenster und schaut dabei zu, wie die Flocken vom Wind hin und her getrieben werden. Dabei zieht sie ihre Decke Stück für Stück höher, sodass irgendwann nur noch der Kopf hervorschaut.“
Ihm jedoch war der Schnee im Moment zuwider, was man deutlich an seinem immer mehr versteinernden Gesicht ablesen konnte.
„Wenn Du den Ring nicht mehr bekommst, dann war´ s das endgültig mit der Beziehung, so viel ist sicher.“
Vor Nervosität begann er nun, wahllos auf den Programmtasten seines Radios rumzudrücken.
„Last Christmas, I gave you my heart…”
In weniger als einer Sekunde hatte seine Hand das Radio abgedreht.
Endlich auf dem Parkplatz des Juweliers angekommen, lehnte er sich einigermaßen beruhigt zurück. Der Schneesturm wurde zwar stärker, aber das kümmerte ihn nicht.
Schließlich war das Juweliergeschäft jeden Werktag bis 20 Uhr geöffnet.
Dass jedoch alle Regeln ihre Ausnahmen haben, lernte er nach einem Blick auf das hübsche Schild, welches an der verschlossenen Tür baumelte.
„Wir wünschen allen Kunden frohe Weihnachten sowie einen guten Rutsch ins neue Jahr und sind ab dem 02. Januar wieder für Sie da!“
Im Laufe seines Lebens hatte er gelernt, mit einigen Enttäuschungen umzugehen.
So blieb sein Gesicht nach zweimaligem Lesen des Schildes merkwürdig ausdruckslos, und nur der geübte Beobachter hätte durch das leichte Zittern seiner rechten Hand feststellen können, wie es wirklich in ihm aussah.
Statt zurück zum Auto zu gehen, trottete er in die nächste Querstraße.
Es war nun komplett dunkel, und der dichte Schnee nahm im zusätzlich die Sicht.
Deswegen konnte er auch die Mülltonne nicht erkennen, über die er stolperte und so mit dem Gesicht zuerst im Schnee landete. Selbige Tonne wurde einige Sekunden später zum Objekt seiner geballten Wut, die sich über Jahre und vermehrt in den letzten Minuten in ihm angestaut hatte.
Er begann, so lange auf sie einzutreten, bis eine deutliche und für ihn befriedigende Verformung zu sehen war.
Endlich blieb er stehen, keuchte, und bewunderte sein Werk.
„Wat isn dat fürn Krach am heiljn Abend?“
Die Stimme kam irgendwo von über ihm.
„Entweder ist mein Verstand endgültig erfroren oder der Herr persönlich spricht zu mir…“
Er blickte nach oben und sah dank des nun nachlassenden Schneesturmes die Umrisse eines Mannes, der an der Kante des Häuserdaches stand.
„Was machen Sie da oben?“
„Wat machst Du da unten?“
Schon wollte er sich entnervt abwenden, doch schnell fiel ihm ein, dass er sowieso nicht wusste, wo er hinsollte.
Also blieb er.
„Ich war sauer und habe meine Wut an dieser verdammten Mülltonne ausgelassen…“
„Wieso warste denn wütend, is doch Weihnachten?“
Ausweichend begann er nun damit, sich den Schnee vom Mantel zu klopfen.
„Verstehe, dit willste mir nich sagen. Na jut, kennst mich ja ooch nich…“
Schon bald fand er keine Stelle mehr auf seinem Mantel, die noch schneebedeckt war.
„Ich wollte meiner Freundin zu Weihnachten einen wunderschönen Ring kaufen, aber dieser dämliche Juwelier hat schon zu…“
In diesem Moment verstand er selber nicht, warum er so offen war.
„Und warum bitteschön warteste damit bis uffn letzten Drücker?“
An dieser Stelle blieb er stumm.
„Allet klar, aber liebste ihr denn so richtich?“
Sein Blick wurde etwas nachdenklicher, und er begann, mit der Hand an seiner Nase zu tasten.
„Ja, ich denke schon. Ich meine, wir hatten in letzter Zeit unsere Probleme, aber ich wollte das alles wieder gut machen, verstehst Du?“
„Und ditt willste hinbekommen, in dem de jegen Mülltonnen trittst und mit ollen Pennern, die uff Häusern stehen, rumlaberst? Junge, jeh zu Deinem Mädel nachhause, die will Dir bestimmt sehn!“
In diesem Moment wurde das Zittern in seiner rechten Hand schwächer.
„Ich habe doch kein Geschenk!“
„Aber jenug Zeit, um uffm Nachhauseweg darüber nachzudenken, warum De Dich in se verliebt hast, nen paar Blümken zu koofen, und nen schnieket Restaurant für heute Abend oder morgen zu überlejen.“
Das Zittern in seiner rechten Hand hatte endgültig aufgehört.
Erstmals begann der Fuß zu schmerzen, mit dem er gegen die Mülltonne getreten hatte. Es war ihm völlig egal. Lächelnd wandte er sich vom Mann auf dem Dach ab und war im Begriff, zu gehen. Doch dann drehte er sich ein weiteres Mal um.
„Sie haben mir noch nicht gesagt, was Sie eigentlich auf diesem Dach machen!“
Nach kurzer Stille kam die Antwort.
„Icke? Ach so, ick wollte eigentlich springen, verstehste…“
„Was, aber das können Sie…“
Der Mann auf dem Dach unterbrach ihn.
„Nun bleib mal janz ruhich meen kleener, ick habs ma gerade anders überlegt.“
Er schaute den Mann auf dem Dach nun zum ersten Mal wirklich an.
„Aber eens musste mir versprechn…“
„Ok, und was?“
„In eenem Jahr steh ick vielleicht wieder hier, und dann wärs dufte, wenn de ooch wieder da wärst…“
„Alles klar, das lässt sich einrichten…“
„Frohe Weihnachten, mein kleener, und grüß mir Deene Olle!“
Eigentlich wollte er den Wunsch noch erwidern, aber als er das nächste Mal nach oben blickte, da war der Mann bereits verschwunden.
So machte er sich auf den Heimweg, durch Nässe und Kälte, doch spüren konnte er weder das eine noch das andere.


Ich wünsche allen meinen Lesern frohe und vor allem erholsame Weihnachten, besonders Eli, Basti, Jule, Yannik und Matze!

... link (6 Kommentare)   ... comment


Donnerstag, 21. Dezember 2006
Wir sind alle primitiv
Frau sagt:

„Warum ich mich in ihn verliebt habe? Na ja, er ist halt ein voll süßer Typ.
So lieb, fürsorglich, und diese blauen Augen…
Am meisten kam es mir also doch auf die inneren Werte an, klar…“

Wissenschaftliche Übersetzung:

Die Frau ist nicht in der Lage, den Grund für ihre Partnerwahl glaubhaft rational zu erklären. Dies sollte ihr jedoch nicht vorgeworfen werden, schließlich versteht sie ihn selber nicht. Die Wahrheit liegt also abseits der eben von ihr getätigten Aussage:
Sie hat sich für dieses Männchen entschieden, weil dessen herrisches Auftreten und muskulöser Körperbau ihrem Wunsch nach Schutz und vor allem häufigem und erfüllendem Geschlechtsverkehr nahe kommen.
Oder unwissenschaftlicher formuliert:
Weil er es ihr einfach so richtig gut besorgen wird.

Mann sagt:

„Wie jetzt verliebt? Keine Ahnung, ist doch eigentlich auch latte. Die ist einfach mal rattenscharf! Da sitzt alles genau dort, wo es hingehört, und fertig."

Wissenschaftliche Übersetzung:

Nicht nötig, da wahrheitsgetreue Aussage des Mannes.

... link (0 Kommentare)   ... comment