Sonntag, 25. Februar 2007
Das Leben hinter dem Gesicht
Es war sein Glück, dass ihn eine Kugel in den Kopf traf.
Jedenfalls haben das später seine Kameraden gesagt.
So spürte er nicht mehr, wie die anderen ihm den Bauch zerfetzten, sondern fiel einfach hinten über, mit dem leicht überraschten Gesicht nach oben.
Es gab in diesem Krieg einige, die ihn um seinen schnellen Tod beneideten.
„Sieh es Dir an, sie haben Harry die Kugel direkt neben seine Narbe gesetzt.“
Eigentlich hieß er gar nicht Harry, das war nur sein Spitzname, den sie ihm wegen eben dieser Narbe verpasst hatten.
Die Narbe hatte er bekommen, da musste er so um die sechs Jahre alt gewesen sein.
Der Grund war ein Bonbonglas, welches ganz oben stand, auf dem höchsten Regal in der Küche.
Ihm war bewusst, dass er zu klein war, um da jemals ranzukommen. Doch mit Papas Spazierstock und dem Willen, sich so weit zu strecken, wie es nur irgendwie möglich war, gelang es ihm, das Bonbonglas vom Schrank zu holen.
Dass es ihm dabei direkt auf die Stirn fiel, brachte seine Mutter in diesem Moment zwar zum Weinen,
er hingegen wunderte sich nur, dass es nicht zerbrochen war.
Die Narbe auf der Stirn jedenfalls erinnerte ihn von da an immer daran, dass man sich für viele Bonbon-Gläser im Leben eben strecken musste, wenn man sie bekommen wollte.
Abgesehen davon ließ es sich mit dieser Narbe wunderbar prahlen. Nicht zu stark, denn ein Angeber wollte er nie sein. Aber so ein bisschen musste es schon erlaubt sein, davon war er überzeugt. Vor den Kumpels sowieso, aber etwas später vor allem vor den Mädchen. Dann kam die Narbe wahlweise von einem Motorradunfall oder einer Schlägerei, bei der er einen Verbrecher, der seiner Oma die Brieftasche klauen wollte, in die Flucht schlagen konnte. Allerdings nicht ohne Spuren davon zu tragen, versteht sich. Als seine erste Freundin jedoch einmal alte Kinderfotos von ihm in die Hände bekam, auf denen die Narbe schon deutlich zu sehen war, hatte diese junge Beziehung ihr Ende erreicht. Einen dummen Lügner wurde er von ihr genannt.
„Nun denn“, dachte er sich, „wenn die Narbe der einzige Grund war, weswegen sie mich mochte, dann soll die doch zur Hölle fahren!“. Zumindest versuchte er, sich das einzureden. Natürlich war das Verdrängen in Wirklichkeit schwieriger für ihn, aber zugegeben hätte er das nie. Außerdem gab es an der Sache auch eine gute Seite:
Er konnte sich jetzt wieder mehr seinen Freunden widmen, besonders seinem besten Kumpel Tim. Den kannte er schon aus dem Sandkasten, und er war auch der erste, der Harry im Krankenhaus besuchte, nachdem ihm das Bonbonglas auf den Kopf gefallen war. So wuchs ihre entfremdete Freundschaft auch schnell wieder, nachdem Harry von seiner ersten Freundin verlassen wurde.
Es war die Art von Freundschaft, bei der man die Antworten des anderen schon kennt, bevor dieser sie gibt.
Das Besondere dabei ist jedoch, dass man sie sich trotzdem immer wieder gerne anhört, weil jedes Mal die Möglichkeit besteht, dass noch ein wenig Neues dabei ist. Nur bei dieser Art von Freundschaft können beide mit einem Bier auf der Couch sitzen, die eigentlich billige alte Lieblingsserie gucken und dabei kaum reden, ohne dass es für einen von beiden unangenehm ist.
„Weißt Du Harry, eigentlich sollten wir heiraten, aber leider sind wir nicht schwul.“
Deshalb entwickelte sich bei beiden mit Zeit auch wieder das Interesse an den Frauen. Tim handhabte seine Beziehungen eher liberaler, wie er immer zu sagen pflegte. Harry hingegen verschoss sich in ein Mädchen, in das eine Mädchen.
Sie hatte zwar kein Interesse an einer Beziehung mit ihm, doch verstand sie es hervorragend, ihm in wenigen Momenten das Gefühl zu geben, dass er eine Chance hätte. Zumindest sah seine Interpretation so aus. Nach einem Jahr des Gefühlschaos lag Harry dann auf dem Fußboden in Tims neuer Wohnung und weigerte sich, wieder aufzustehen.
„Junge, sie ist das Bonbonglas, also strecke Dich verdammt nochmal ein wenig, um an sie ranzukommen….Aber lass sie Dir nicht auf den Kopf fallen, sonst gibt es die nächste Narbe…“
Doch erst nach drei weiteren langen Monaten, als er alleine und äußerst frustriert auf dem dunklen Hinterhof einer Disco stand, wobei ihm der Regen egal war, da durfte er endlich den Moment erleben, an dessen Erfüllung er mittlerweile nicht mehr glaubte.
Sie kam zu ihm raus, und ohne ein Wort zu sagen küsste sie ihn auf den Mund.
Zwar verstand er nie, was sie zu diesem Sinneswandel bewogen hatte, aber war das nicht egal?
Leider blieb ihm nicht die Zeit, die er sich für seine neue Beziehung erhofft hatte, denn Tim brauchte seine Hilfe.
Nach Abschluss der Schule musste er eine abgelehnte Bewerbung nach der anderen hinnehmen, und auch wenn er nach außen hin so tat, als würde ihm das nicht viel ausmachen, so wusste Harry als sein bester Freund lange bevor Tims Maske endgültig zusammenbrach, dass ihn die Ablehnungen wirklich trafen.
War es dieser Umstand, der Tim auf die Idee brachte, zum Militär zu gehen?
Für Harry jedenfalls wurde schnell klar, dass er ihn dort besser nicht alleine lassen sollte.
„Pass auf, wir machen das zusammen, aber auf unsere Art.
Die Grundausbildung ziehen wir durch, es wird hart, aber wir schaffen das. Und anschließend studieren wir da irgendwas Technisches, damit wir nicht komplett verblöden.“
In zwei simplen Sätzen konnte Harry den kompletten Plan für die nächsten Jahre skizzieren. Die Begeisterung seiner Freundin hielt sich naturgemäß in Grenzen, doch versprach er, sie während der Grundausbildung jeden zweiten Tag anzurufen und danach so oft zu besuchen, wie es ihm möglich war.
So kämpften sich beide durch die ersten Monate beim Militär und sie hätten gelogen, wenn sie behauptet hätten, dass es nicht hart war. Doch immer wenn einer von beiden vor der Aufgabe stand, konnte der andere ihn wieder hochziehen.
Und wenn sie abends vor Erschöpfung nicht gleich in ihre Betten fielen, spielten sie Schach oder lasen in den Büchern, die Harrys Freundin ihnen schickte.
„Damit Du mich noch mit einem ganzen Satz begrüßen kannst, wenn Du wiederkommst.“
Die Ausbildung schritt weiter voran, wobei beide mehr und mehr merkten, dass sich die Waffen besser in den Händen anfühlten als die Bücher. Auch verschmolzen sie mit den anderen Jungs von Tag zu Tag weiter zu einer Einheit, die Sicherheit und Unterstützung bot, das Schach spielen und Lesen überflüssig machte und die einsamen dunklen Flecken im Inneren, mit denen sie alle zum ersten Mal die Kaserne betraten, verschwinden ließ. Am Ende landeten Harry und Tim in keinem Vorlesungssaal, sondern im Häuserkampf in einem staubigen Land, dessen Einwohner auf diese Weise die Demokratie lernen sollten. Sie mussten töten, und dazwischen schrieb Harry Briefe an seine Freundin, die sie jedoch nie öffnete.
Oder er füllte zusammen mit Tim Sand in das Bonbonglas, das er aufgehoben und mitgenommen hatte, immer ein wenig von jedem Ort, an den sie geschickt wurden. Als das Glas eines Abends voll war und diese Beschäftigung damit zu Ende, warf Tim es frustriert gegen eine Felswand, an der es zersplitterte.
Es war der Abend vor ihrem bisher größten Einsatz, der Stürmung eines Stadtteils, in dem die Aufklärer Terroristen ausfindig gemacht hatten.
Sie saßen beide nebeneinander auf dem sandigen Boden, gelehnt an eine Felswand, die Scherben überall um sie herum verteilt.
Keiner von beiden sah den anderen an, stattdessen richteten sich ihre Blicke in die leere Ferne und damit vielleicht auf die Heimat, die sie dort vermuteten.
Harry brach als erster das Schweigen, welches jedoch weder er noch Tim als unangenehm empfanden.
„Weißt Du eigentlich noch, warum wir hier sind, und nicht zu Hause?“
Tim vergrub die rechte Hand im Sand.
„Na für unser Land, Du Idiot. Hast Du etwa nicht zugehört?“
Harry buddelte einen kleinen Stein aus der Erde und warf ihn anschließend einige Meter weiter.
„Soll ich Dir mal was sagen?“ Wenn unser Land eine Frau wäre, und zwar eine, zu der Du eigentlich nicht nein sagen kannst.
Du weißt, was ich meine. Eine, die Deinen Verstand durch und durch vernebelt und einfach perfekt ist.“
An dieser Stelle wurde er von Tim unterbrochen.
„Dann würdest Du ihr jetzt trotzdem sagen: Raus aus meinem Bett, ich will Dich nicht mehr sehen, auch wenn sie nackt neben Dir gelegen hätte.“
Harry nickte. Anschließend begannen beide, spöttisch zu lachen.
Sehr bald jedoch wurden ihre Mienen wieder hart.
„Wenn wir morgen draufgehen“, fragte Harry, „was glaubst Du fühlt man dabei?“.
Tim steckte sich eine Zigarette an.
„Schätze, wir haben Glück, denn eigentlich sind wir längst tot, wenn Du verstehst, was ich meine.“
Damit hatten beide alles gesagt, was zu sagen war.
Die Sonne ging unter, während beide ihr dabei zusahen, wie sie es immer am Vorabend eines Kampfes taten.
Später wurde Tim klar, dass Harrys Blick an diesem Abend besonders lange gen Sonne gerichtet war.
Auf Harrys Beerdigung gab seine Ex-Freundin Tim einige der Briefe, die Harry während des Krieges an sie geschickt hatte.
Sie waren an Tim gerichtet, für den Fall, dass er alleine nach Hause zurückkehren würde.
So wurde ihm bewusst, wie sehr Harry an dem Abend seines letzten Sonnenunterganges auch innerlich noch lebte.
Nachdem Tim sie gelesen hatte, wusste er, dass er das Bonbonglas seines Lebens wieder zusammensetzten wollte.
Es würde schwer werden und nie wieder so heil aussehen wie früher, doch mit Harrys Hilfe konnte er es versuchen.

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Tobi ich muss ehrlich sagen, ich weiß einfach nicht was ich dazu groß schreiben soll!
Es ist...eine fantastische Geschichte..in jeder Hinsicht. Einerseits die wahre Freundschaft,andererseits dieses traurige Schicksal, die kleinen Verbindungen zu deinem Leben..es ist einfach alles so wunderbar kombiniert, ich wollte gar nicht das die GEschichte ein Ende nimmt!!
HAst du zufällig Anregungen aus" wake me up when september ends" genommen?! Also da gibts ja kleine Parallelen...finde ich jedenfalls^^ :)
Wirklich wunederbar Tobi, hast du schonmal drüber nachgedacht Bücher zu schreiben in der Zukunft? !!

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Hat er ;-)

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