Dienstag, 10. Oktober 2006
Halbes Leben
Warum nur lächelt dieser Junge so wenig?
Die Frage beschäftigte sie schon lange, doch eine Antwort fand sie bis heute nicht.
Er hat doch ein geregeltes Leben, Freunde, Hobbys und immer genug zu essen. Warum sieht er dann so selten glücklich aus, was fehlt ihm? Wenn sie ihn danach fragt, dann hieß es immer: "Es ist alles in Ordnung, Du brauchst Dir keine Sorgen zu machen, wirklich nicht."
Doch schon am nächsten Tag sitzt er wieder mit leerem Gesicht vor dem Fenster, obwohl doch draußen die Sonne so schön die Natur verzaubert. Letztens hat sie ihn deswegen angebrüllt, ihm in sein ausdrucksloses Gesicht geschrien, dass das Leben doch so voller Möglichkeiten sei und dass er sie verdammt noch mal annehmen und nutzen solle. Carpe Diem, nutze den Tag!
"Wie denn, wenn man nicht lebt?", war seine knappe Antwort.
Nun verstand sie ihn noch weniger, er wurde ihr von Tag zu Tag fremder.

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Mittwoch, 4. Oktober 2006
Der Augenblick
In der S-Bahn saßen sie sich gegenüber.
Gewollt hatte das keiner von beiden, doch leider waren alle anderen Plätze schon besetzt.
Also versuchten sie, wenigstens nicht mit den Beinen aneinander zu geraten.
Er schaute aus dem Fenster, sie in ihr Magazin.
Als er seinen Blick vom Fenster löste und zur Tür richten wollte, da blieb er an ihr hängen.
Doch er sah kaum ihr feines Kostüm, oder die Ringe an den Händen, oder ihre ausgesprochen sorgfältig frisierten Haare.
Nein, da war so ein Funkeln in ihren Augen, in diesen leuchtenden, kraftvollen Augen, das hinderte ihn einfach daran, weiter zur Tür zu sehen.
Für einen kurzen Moment erwiderte sie den Blick.
Alle anderen Menschen im Abteil verschwanden, der Zug blieb stehen, und endlich konnte er alles vergessen, was ihn bisher beschäftigt hatte.
Für einen Augenblick durfte er loslassen, sein Leben mit den zur Gewohnheit gewordenen Sorgen beiseite wischen, nur willkommenen Gefühlen erlauben, zu bleiben.
Doch viel zu schnell blinzelte sie, das Funkeln erlosch und sie versenkte den Blick erneut in ihrem Magazin.
Die anderen Menschen tauchten plötzlich wieder auf und auch der Zug fuhr weiter.
An der nächsten Station stieg sie dann aus.
Sie tat das sehr zielstrebig und ohne seine Beine auch nur zu berühren.
Er blickte ihr nach, und an seinem Gesicht konnte man ablesen, dass er sich über ein kurzes Umdrehen ihrerseits sehr gefreut hätte.

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Montag, 25. September 2006
Die Frau hinter der Theke
Wenn sie lächelte (und das tat sie oft), dann sah das immer sehr erfrischend aus und steckte die meisten an.
Sie schenkte ihr Lächeln fast jedem Gast, der an ihre Theke kam und etwas bestellte.
Natürlich hatte sie ihren Job nicht nur wegen des Lächelns, sondern sehr wahrscheinlich auch aufgrund ihrer fantastischen naturblonden Haare und den weiblichen Rundungen an genau den richtigen Stellen.
All das trug dazu bei, dass von Tag zu Tag mehr männliche Gäste in die Bar kamen, was natürlich besonders den Chef freute (weniger froh hingegen machte ihn, dass sie ihn anschießend nicht noch für einige Stunden in seinem Büro besuchte).
Doch am glücklichsten machte die Männer ihr Gedächtnis, so komisch das auch klingen mag.
So konnte sie sich die Namen aller Gäste merken,
die mehr als drei Mal an ihrer Theke Platz genommen hatten. Sie kam dann immer auf einen zu, begrüßte ihn mit seinem Namen und setzte dabei dieses bezaubernde Lächeln auf, welches offensichtlich die Fantasie eines jeden Gastes beflügelte.
Das Lächeln verstummte erst, wenn draußen schon die Vögel mit ihrem Gezwitscher begannen, die Musik drinnen verstummte und der letzte Gast die Bar verlassen hatte. Dann wurde ihr Gesicht seltsam ausdruckslos und sie machte sich, nachdem sie geputzt hatte, auf den Heimweg.
So vergingen Monate, die Gäste kamen, sie lächelte, ganz tapfer, weiter und weiter.
Kein Wunder, dass niemand bemerkte, wie sie dünner wurde.
Und dass ihr manchmal ein Glas runter fiel, weil sie das Zittern ihrer Hände nicht mehr kontrollieren konnte, darüber sah jeder Gast hinweg, denn schließlich lächelte sie dabei. Als dann eines Abends ein Mann an der Stelle stand, von wo aus sie sonst immer gestrahlt hatte,
da beschwerten sich die Gäste beim Chef persönlich und wollten wissen, wo sie abgeblieben war. Der konnte darauf nur immer wieder sie selbe Antwort geben:
Sie hat aufgehört zu lächeln.

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