Mittwoch, 3. Januar 2007
Ein ehrlicher Tag
Er ging durch die Straßen und fragte sich, warum er das nicht schon öfters auf diese Weise getan hatte. Früher war er nur unauffälliger Teil der Masse gewesen, wie die meisten anderen, ohne Profil. Jetzt gab es keinen, der sich nicht umdrehte und ihm nach sah. Viele lachten, einige guckten verwundert, wenige verärgert.
Am meisten amüsierte ihn die Frau, die beim Becker hinter der Kasse stand und sich bei jedem einzelnen ihrer Worte enorm zusammenreißen musste, um nicht in lautes Lachen auszubrechen.
„Mama, der Mann hat ja gar nichts an…“
Nun darf man nicht auf die Idee kommen, dass er auch nur an einem Tag seines bisherigen 35-jährigen Lebens daran gedacht hätte, einmal für drei Stunden fast komplett unbekleidet seinen Alltagsgeschäften nachzugehen. Oder, anders gesagt:
Es auch wirklich in die Tat umzusetzen. Heute jedoch konnte er sich endlich überwinden. Wer ihn dabei richtig ansah, der musste bemerken, wie viel Spaß es ihm machte.
Als er anschließend wieder zuhause ankam, da fiel sein Blick auf das Bücherregal, was im Laufe der Jahre beträchtlich an Fülle gewonnen hatte.
Die meisten Bücher, die sich dort quetschten, kannte er nur vom Umschlag.
Er bereute, nicht mehr Zeit investiert zu haben, um sie auch wirklich zu öffnen.
Also nahm er sie aus dem Regal, eins nach dem anderen, und verstaute sie in seinem Rucksack. Anschließend ging er mit dem Rucksack und den Büchern nach draußen (diesmal angezogen) und verteilte die Bücher wahllos an Menschen, die ihm auf seinem Weg begegneten. Er wusste, dass viele die Bücher gar nicht erst annehmen oder später auch wirklich lesen würden. Doch trotzdem freute er sich über jeden, dem er so eine Chance eröffnen konnte, die diese Person sonst wohl nie bekommen hätte.
Er musste einige Male in seine Wohnung zurückkehren, bis sein Bücherregal wieder aussah wie an dem Tag, als er es gekauft hatte. Nachdem das letzte Buch seinen Besitzer wechselte, begann es schon leicht zu dämmern. Die Luft war klarer als gewöhnlich, und als er nach oben blickte, da entdeckte er keine einzige Wolke am Himmel.
„Wann habe ich eigentlich zum letzten Mal nach oben geblickt, ganz in Ruhe?“
In diesem Moment wurde ihm bewusst, was an diesem merkwürdigen Tag noch erledigt werden musste. Er lief einige Straßen weiter, zwar befreiter als sonst, aber je näher er seinem Ziel kam, umso schwerer wurde es für ihn.
Doch immer war er sich sicher, dass diese Gelegenheit nie wieder kommen würde.

Sie öffnete die Tür und schaffte es nicht lange, die Verwunderung in ihrem Blick zu überspielen. Für ihn war sie sofort wieder das Mädchen, in das er sich einmal verliebt hatte.
„Ich weiß nicht, warum Menschen so dumm sind, gewisse Dinge mit sich rumzuschleppen und in sich zu verschließen, anstatt einfach den Mund aufzumachen. Ich war dumm, all die Jahre, und deshalb erfährst Du es erst jetzt.
Ich habe mich in Dich verliebt, lange schon, und zwar nicht nur ein bisschen, sondern richtig.
Ich habe es Dir nie gesagt, weil ich zu viel Angst vor Deiner Antwort hatte.
Du bist das faszinierendste Mädchen, was ich jemals getroffen habe.“
Ihr Blick verwandelte sich nun in eine Mischung aus Verwirrung und ein wenig vom dem, was man als Reaktion auf ein Kompliment bezeichnen würde.
Sie behielt diesen Ausdruck noch einige Momente lang bei, auch nachdem er längst gegangen war.
Mittlerweile hatte die Nacht, welche genauso klar und mild war, wie sie sich ankündigte, den Tag vollends abgelöst.
Er lag nun in einem Liegestuhl und blickte nach oben, mitten hinein in die ganze Freiheit. Da er sich samt Liegestuhl auf dem Dach seiner Wohnung befand, konnte er das besonders gut.
„Ich habe heute nur wenig von dem geschafft, was ich vorhatte.
Trotzdem war das immer noch mehr als in den ganzen bisherigen 35 Jahren.“
Und so hörte er auf zu denken, sah noch ein wenig nach oben, bis ihm seine Augen zum letzten Mal zufielen, aber zum ersten Mal mit Zufriedenheit.

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