Samstag, 12. Mai 2007
Zuhause
Dunkel lag sie vor ihm, die Straße, mit Bäumen auf beiden Seiten.
Die Äste und Blätter zitterten im Wind, als ob sie dessen Willen gehorchten. Obwohl er unter einem Vordach stand und sich mit dem Rücken an die kalte Steinwand presste, wurde er nass, denn der Wind schickte den Regen in ungleichmäßigen Abständen zu ihm hinüber.
Kein Mensch war mehr auf der Straße, und es wunderte ihn nicht.
Für einen Moment dachte er daran, zurückzugehen, und wie die anderen in einem Zimmer abzuwarten, bis der Sturm seine Kraft verlieren würde.
Aber dann könnte er heute nicht mehr da ankommen, wo er schon so lange hinwollte.
Könnte nicht das hölzerne Gartentor beiseite schieben, und sich dabei wieder vornehmen, es endlich neu zu streichen.
Könnte nicht an der Hecke vorbeigehen, die ihn jedes Mal daran erinnerte, wie schön es sein kann, der Natur keine Grenzen zu setzen.
Und er könnte auch nicht in das Gesicht der Person blicken, für die sich der Weg durch Regen und Sturm lohnte.
So trat er auf die Straße, wurde sofort nass und fror entsetzlich, doch anhalten wollte er nicht, denn seine Füße liefen von alleine.

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Freitag, 4. Mai 2007
Nur ein Traum
Sie steht am Ufer des Sees, barfuß, mitten in der Nacht.
Die Oberfläche des Wassers spiegelt das Mondlicht, während kleine Wellen um ihre Füße tanzen.
Das Wasser fühlt sich nicht kalt an, sie spürt es kaum.
Selbst der Wind vermag es nicht, sie frieren zu lassen.
Vom nahen Wald hört sie ein hektisches Rascheln, aber es kann ihr keine Angst machen.
Erst als sie ihren Blick senkt und das Wasser sich weigert, ihr Bild zu reflektieren, wacht sie auf.
Sie dreht sich auf die andere Seite und hofft, dass der See ihr beim nächsten Besuch zeigen wird, was sie sehen will.

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Samstag, 28. April 2007
Fickt den Staat - Ein politischer Aufruf
In den Medien wird eine Propaganda verbreitet, der nach die Deutschen ihr politisches Interesse verlieren würden.
Hierzu kann ich nur feststellen: Was für ein Schwachsinn!
Wären die offensichtlich staatlich beeinflussten Medien dazu bereit, ihren Blick auf unsere Szene zu richten, dann würden sie erkennen, welche unglaubliche politische Kraft sich bei uns versammelt.
Am ersten Mai ist es wieder an der Zeit, dass diese politische Kraft für ihre Ideale auf die Straße geht!
Ja, die Revolution findet nun schon zum 20. Mal statt, ohne, dass sich bisher etwas geändert hat, aber davon lassen wir uns nicht unterkriegen!
Nieder mit den G8!
Tod dem Kapitalismus!
Und vor allem: Zur Hölle mit diesem deutschen Polizei-Staat, der unschuldige Bürger wie uns Tag für Tag mit repressiven Maßnahmen verfolgt und demütigt.
Er trägt die wahre Schuld daran, dass viele von uns keine Arbeit mehr haben!
Doch lassen wir uns nicht mit heuchlerischen staatlichen Almosen wie Sozialhilfe und Arbeitslosengeld mundtot machen!
Nein, am ersten Mai zeigen wir diesem Staat erneut, was wir von ihm halten!
In diesem Sinne:
Lasst uns die Straßen besetzen!
Lasst alle feindlichen kapitalistischen Erzeugnisse brennen!
Gebt den Bullen die Straße Stein für Stein zurück, sie provozieren uns dazu, es ist ihre Schuld!
Und verdammt, denkt um Himmels Willen daran, genug Bier mitzubringen!
Soll ja auch ein bisschen Spaß machen, unsere Revolution…

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Samstag, 21. April 2007
Vergiftet
Er war sich nicht mehr ganz sicher, denn die letzten Jahre verschwommen in seinem Kopf, doch es musste schon einige Zeit her sein, dass er vergiftet wurde.
Sie hatten ihm weiß machen wollen, er käme darüber hinweg.
„Klar, es braucht seine Zeit, doch Du wirst sehen, dass Du es schaffst.“
Ja, es war lieb gemeint, und er hätte einem Freund nichts anderes gesagt als das.
Aber helfen konnte es ihm nicht.
Er spürte nun, wie das Gift langsam auf seinen ganzen Körper übergriff, mehr und immer mehr. Gleichzeitig schwanden seine Kräfte.
Sein Kampf war tapfer, doch kam er ihm immer vergeblicher vor.
Gut für ihn, dass das Gift von innen wirkte, denn so sah man es ihm nicht an.
Kämpfen musste er jeden Tag, und immer alleine. Wollte er das so? Manchmal ja, dann ging es darum, es sich selbst zu beweisen.
Aber in seiner letzten Nacht, als das Gift seinen ganzen Körper zerfressen hatte, da wünschte er sich jemanden an seine Seite, der ihm bei seinem Kampf helfen konnte.

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Mittwoch, 11. April 2007
Das Geräusch des Regens
Draußen klopft der Regen an Deine Fensterscheibe, drinnen sitzt Du am Schreibtisch.
Du hast zu tun, doch der einzige Grund, warum Du Deiner Arbeit nachgehst, ist die Ablenkung. Stapel von Papier liegen vor Dir, und es freut Dich.
So viele Stunden Arbeit, unterbrochen höchstens vom Essen oder Schlafen, und keine Zeit zum Nachdenken. Du lässt Dir besonders viel Zeit, Seite für Seite.
Wenn Du wirklich einmal Pause machen solltest, dann sitzt Du einfach nur da, schaust nach draußen, und hörst auf den Regen. Er hat keine Melodie für Dich, doch er erfüllt seinen Zweck, denn das Klopfen verdrängt die Gedanken, die Du jetzt am wenigsten brauchst.
Die Angst vor dem Moment, in dem Deine Arbeit getan und der Regen vorbei ist, die bleibt trotzdem, ganz hinten, aber immer spürbar.

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Samstag, 31. März 2007
Eine chemische Romanze
Wer auch immer den kleinen Blumenladen an der Straßenecke betrat, fühlte sich für den Moment seines Besuches in eine andere Welt versetzt, voller Lebendigkeit und schöner Farben.
Wohl auch aus dem Grund hatte der Junge seine Ausbildung in diesem Laden begonnen.
Sein Chef, den er schon nach drei Tagen eher als Mentor betrachtete, stand kurz vor der Pensionierung, so dass der Junge sein letzter Auszubildender sein würde.
Lag es daran, dass er ihn so gut behandelte?
„Mein Junge, Blumen und Menschen haben ein besonderes Verhältnis zueinander.
Manche passen besser zusammen als andere. Wenn Deine Ausbildung fertig ist, dann wirst Du erkennen, welche Blume zum Kunden passt, sobald er den Laden betritt.“
Daran glaubte der Junge zwar zu Beginn keine Sekunde, widersprach seinem Chef aber auch nicht.
Am besten gefiel es ihm, für die Kunden die passenden Blumen zusammenzustellen.
Im Laden waren alle viel freundlicher als draußen auf der Straße, so als würde diese kleine faszinierende Welt ihnen beim Lächeln helfen.
So verwunderte es nicht, dass viele der Kunden regelmäßig kamen.
Aber ein Kunde, Herr Henkelmann, war so besonders, dass ihm sein Chef bereits am ersten Tag der Ausbildung von ihm erzählte.
„Herr Henkelmann besucht uns jeden Freitag so gegen 17 Uhr. Er lässt jedes Mal einen Strauß Blumen zusammenstellen, für seine Frau.
Welche Blumen das sind, überlässt er Dir.
Sieh einfach zu, dass sie zusammenpassen.
Nur eines ist sehr wichtig: Es muss eine gelbe Rose darunter sein, und zwar eine aus dem Eimer, der hier unter der Kasse steht. Das sind nämlich keine normalen Rosen, ich habe jeder einzelnen von ihnen ein paar Tropfen einer Mixtur mit außergewöhnlicher Wirkung in die Blüte geträufelt.“
Der Junge sah seinen Chef verwundert an.
„Was bewirken diese Tropfen?“
Sein Chef begann zu lächeln.
„Ich erinnere mich noch genau daran, wie Herr Henkelmann zum ersten Mal hier war.
Er wollte einen Strauß Blumen kaufen.
Also fragte ich ihn, für wen die Blumen gedacht seien.
„Für eine Dame“, antwortete er knapp.
„Und ist es eine besondere Dame?“, fragte ich weiter.
Da verdunkelte sich sein vorher noch sehr heiterer Blick.
„Ja, das ist sie.“
Jetzt wollte ich es genau wissen. Denk daran, Du musst Deine Kunden kennen, um ihnen die richtigen Blumen zu verkaufen.
Deshalb fragte ich ihn, warum er denn so traurig aussah, wenn er von dieser besonderen Dame sprach.
„Weil bei ihr alle Mühe vergeblich ist“, lautete seine knappe Antwort.
Da wusste ich sofort, wie ich dem Mann helfen konnte.
Ich erinnerte mich an ein Rezept, was mir mein Chef, ein wirklich kluger Mann, einmal verraten hatte. Mit diesem Rezept konnte ein Mittel hergestellt werden, dessen Duft ausreichte, um jede Frau zu verführen.
Ja mein Junge, als ich zum ersten Mal davon gehört habe, musste ich auch grinsen.
Aber vertrau` mir, es funktioniert!
Mein Chef war der lebende Beweis.
Ich habe es ihm auch erst wirklich geglaubt, als ich die vielen hübschen Frauen sah, die zu seiner Beerdigung kamen.
Von da an probierte ich es selbst aus und ich kann Dir eines versichern:
Dieses Wundermittel ist der heilige Gral, nach dem ein jeder Mann sein Leben lang insgeheim sucht, und mein Chef hatte ihn gefunden. Ich weiß nicht, warum er dieses Rezept nicht zu Geld gemacht hat. Vermutlich siegte am Ende einfach der Egoismus, bei mir ist es ja genauso gewesen.
Wie auch immer, Herr Henkelmann war zunächst sehr skeptisch.
Also gab ich ihm den Blumenstrauß mit den beträufelten gelben Rosen, ohne dass er dafür bezahlen musste.
Genau eine Woche später betrat ein vollkommen veränderter Herr Henkelmann meinen Laden, dessen Glück in jedem Wort, das er sprach, und in jeder seiner Gesten zu sehen war. Von da an kaufte er immer freitags einen Blumenstrauß, und jedes Mal musste ich ihm eine der besonderen gelben Rosen mit hinein binden.
Schon bald sagte ich ihm, dass die gelbe Rose gar nicht mehr nötig sei, doch er wollte kein Risiko eingehen.
So geht das bis heute. In einer halben Stunde müsste er hier sein.“

Nachdem der Chef dem Jungen die Geschichte von Herrn Henkelmann erzählt hatte, ging er nach Hause.
Der Junge stand nun das erste Mal alleine im Laden und dachte nach.
Was fehlte dem Herrn Henkelmann, warum hatte er das Herz seiner Frau nicht auch ohne die gelbe Rose gewinnen können?
Erst das Klingeln der kleinen Türglocke holte ihn aus seinen Gedanken zurück.
Herr Henkelmann betrat den Laden, mit schwungvollem Schritt und freundlichem Gesicht. Er stellte sich vor die Kasse und bat um den üblichen Strauß.
„Junger Mann, dass sie mir ja nicht die gelbe Rose vergessen!“
Der Junge fasste einen Entschluss.
„Sie bekommen den Strauß, aber wir haben leider keine der besonderen gelben Rosen mehr.“
Sofort wurde Herr Henkelmanns Körperhaltung unsicherer und seine gesunde Gesichtsfarbe verwandelte sich in Blässe.
„Wissen Sie, diese Rose ist sehr wichtig für mich. Ohne sie brauche ich gar nicht erst nach Hause zu gehen.“
Doch der Junge begann bereits damit, die anderen Blumen für den Strauß zusammenzubinden.
„Die Rose hat mir eine wunderbare, mittlerweile fünfjährige Beziehung ermöglicht.
Wollen Sie, dass ich die nun einfach aufgebe? “
Der Junge hielt für einen Moment inne.
„Denken Sie im Ernst, dass eine gelbe Rose ihre Frau dazu gebracht hat, sich in Sie zu verlieben?
Glauben Sie mir, sie wird sich auch so über den Strauß freuen.
Er kommt doch von Ihnen.“
So verließ Herr Henkelmann den Blumenladen zu ersten Mal mit einem Strauß, in dem die gelbe Rose fehlte.
Der Junge aber war zuversichtlich:
Herr Henkelmann würde trotzdem wie gewohnt am nächsten Freitag zurückkehren, um Blumen für seine Frau zu kaufen.
Dann wird er endlich eingesehen haben, wie wenig er die gelben Rosen noch benötigt.

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Samstag, 24. März 2007
Gefängnis im Kopf
Sein neues Zuhause ließ ihn vieles vergessen, doch eine Erinnerung musste einfach bleiben, als ob sie in sein Hirn eingebrannt worden wäre:
Das Gefühl von Sand auf der Haut, das Rauschen der Wellen, die kreischenden Möwen und nicht zuletzt der Wind, ohne den das Meer gar nicht existieren könnte. Verbunden waren diese Empfindungen mit seiner Familie, mit der er vor gut zwei Jahren endlich in das Haus direkt am Strand gezogen war. Lange hatten sie davon gesprochen, es sich ausgemalt, Pläne geschmiedet, aber zu oft den entscheidenden Schritt nicht gewagt.
Dann standen sie eines Abends doch endlich am Strand, hinter ihnen ihr Haus, vor ihnen nur das Meer, und brauchten eine Weile, um die Situation zu erfassen.
Von da an saßen sie viele Abende direkt am Meer, mal alleine, mal alle zusammen oder nur er mit seiner Frau, und es fühlte sich gut an, denn ein lange gehegter Wunsch war in Erfüllung gegangen.
Es betrübte ihn, dass die Stimmen in seinem Kopf genau in dem Jahr zum ersten Mal erklangen, als er mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn in das neue Haus zog.
Er wusste nicht, woher sie kamen oder wie er sie dazu bringen konnte, zu schweigen.
Und als sie immer öfter zu ihm sprachen, da konnte er sie einfach nicht mehr ignorieren.
Er wollte sie verjagen, herausbekommen aus seinem Leben, aus dem Leben seiner Familie, dem neuen Leben am Meer.
Er schrie gegen sie an, besonders nachts, weil sie ihn dann am lautesten riefen. Aber bald gab er seinen Widerstand auf, viel zu schnell, wie er sich später eingestehen musste.
Zum ersten Mal hörte er ihnen zu, und wenig später tat er, was sie ihm befahlen.
Seiner Familie konnte er es nicht verheimlichen, denn für sie wurde er mehr und mehr zu einem Fremden, einer Bedrohung.
So landete er hier, in diesem kleinen Raum, ohne scharfe Ecken oder spitze Gegenstände, mit denen er sich verletzten konnte, wie er es damals gemacht hatte.
Man kümmerte sich um ihn, beschützte ihn vor den Stimmen, die durch kleine weiße Pillen zum Verstummen gebracht wurden.
Jetzt, in den Nächten ohne Stimmen, da musste er immer an seine Familie und das Meer denken, und er wollte dahin zurück.
Sein Sohn hatte ihm ein Bild gemalt, auf dem er mit Mama und Papa am Strand steht und auf das Meer hinaus sieht.
Es hing direkt an der Wand über dem Bett.
Manchmal brachte er Stunden vor dem Bild zu, ließ es realer werden, bis er endlich selbst wieder neben seinem Sohn und seiner Frau das Meer betrachten konnte.
Alles war da, der Sand, die Wellen, die Möwen und natürlich der Wind, aber sein schmerzender Kopf verhinderte jedes Mal, dass er länger am Strand blieb.
Doch immer, nachdem er ihn ein letztes Mal gegen die Wand geschlagen hatte, wusste er, dass er es wieder tun würde, um zu seiner Familie zurückzukehren.
Schon bald kamen Männer und nahmen das Bild weg, damit es ihn nicht mehr dazu brachte, mit dem Kopf gegen die Wand zu hauen.
Von nun an blieb ihm nur, jeden Gedanken zu nutzten, um gegen das Verblassen der Erinnerung anzukämpfen, der Erinnerung an das Meer und seine Familie.

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Samstag, 17. März 2007
Willkommen in der schwarzen Parade!
Als ich noch klein war, vielleicht gerade acht Jahre alt, da kam mein Vater einmal zu mir ins Zimmer, und ich merkte sofort, dass etwas Außergewöhnliches passieren würde, weil sein Gesicht sehr ernst aussah. Er sagte mir, dass es an der Zeit sei, meine besten Sachen anzuziehen, damit ich ihm in die Stadt folgen kann.
Ich fragte ihn, warum es nötig ist, sich dafür hübsch zu machen. Da antwortete er: „Junge, ich zeige Dir heute in der Stadt etwas ganz Besonderes: Die schwarze Parade.“
Anschließend riet er mir noch, mich zu beeilen, und verließ das Zimmer.
Verwirrt stand ich da, in der Mitte meines Zimmers, doch nach kurzer Zeit entschied ich, den Anweisungen meines Vaters zu folgen. Nicht, dass ich ein Kind gewesen wäre, welches seinem Vater nie widersprach. Nein, ich war ganz einfach neugierig, was es mit der schwarzen Parade auf sich hatte.
Als ich mit meinem Vater das Haus verließ, bemerkte ich, wie ungewöhnlich still meine Mutter an diesem Tag war und wie besorgt sie dreinblickte. Mein Vater jedoch ließ sich davon nicht beirren.
Auf dem Weg zur Stadt stellte ich ihm die Fragen, die mich beschäftigten.
Wer läuft da mit?
Wie sieht sie aus?
Warum findet sie statt?
Aber er murmelte nur „wirst Du alles sehen“ und ging weiter.
Nach einigen Minuten blieb er stehen. Wir befanden uns auf der nördlichen Seite der großen Hauptstraße, die durch die ganze Stadt führte und wenige Meter weiter hinter einem Knick verschwand. An beiden Seiten der Straße hatten sich Leute versammelt, sie sprachen kaum und blickten alle nur zum Ende der Hauptstraße.
Ich weiß noch, dass ich die Trommeln hörte, bevor ich auch nur ein einziges Mitglied der schwarzen Parade sah.
Dieses gleichmäßige Trommeln war erst ganz leise und kam dann immer näher. Je lauter es wurde, desto mehr faszinierte es mich.
Kaum zu glauben, aber noch bevor die schwarze Parade um die Ecke bog, hatte sie mich begeistert. Als es dann endlich soweit war, fühlte es sich an, als hätte ich mein ganzes Leben auf diesen Moment gewartet.
„Papa, da kommen sie“, schrie ich.
Doch er packte mich nur am Arm und forderte mich eindringlich auf, still zu sein.
Es fällt mir schwer, an dieser Stelle in Worte zu fassen, wie die schwarze Parade aussieht. Sicherlich kann sie dem unbedarften Beobachter Angst machen, mit all ihren in schwarze Gewänder gehüllten Mitgliedern, die mit absolut präzisem Gleichschritt marschieren. Einige tragen groteske Masken, andere zeigen ihre ausdruckslos-bleichen Gesichter. Es ist, als hätte der Tod diesen Leuten noch einmal gestattet, für einen letzten Marsch auf die Erde zurückzukehren.
Wie ich nach und nach mitbekam, konnte man meinen Vater nicht gerade zu einem Anhänger dieser Parade zählen.
Er drängte mich schon nach fünf Minuten dazu, die Hauptstraße wieder zu verlassen und nach Hause zurückzukehren.
Doch ich wollte nicht. Bereits diese kurze Zeit reichte aus, um mich in einen Anhänger der schwarzen Parade zu verwandeln.
Mittlerweile ist mir klar, dass Vater diesen Umstand immer befürchtet hat.
Ich hingegen besuchte die schwarze Parade von da an zuerst heimlich und später ganz offen, so oft ich es konnte.
Vieles musste ich loslassen und Dinge tun, deren genaue Beschreibung ich an dieser Stelle aussparen möchte.
Aber meine Mühen haben sich gelohnt, denn nun stehe ich da, wo ich immer hinwollte: An der Spitze.
Meinen Eltern gefiel das überhaupt nicht, aber sie waren keineswegs dazu in der Lage, mich daran zu hindern.
Einmal hörte ich kurz vor dem Weggehen, wie meine Mutter in der Küche zu meinem Vater sagte, sie habe von Anfang an gewusst , dass es besser gewesen wäre, mir die schwarze Parade nicht zu zeigen.
Seine Antwort klang so bitter wie überzeugt:
„Wir können ihn nicht vor Allem beschützen, und besonders nicht vor ihr.
Er hätte ihr von alleine widerstehen müssen, was er leider nicht geschafft hat.
Ich dachte immer, dass der Junge stärker ist.“

Mir macht es nichts aus, dass mein Vater mich für schwach hält.
Er ist einfach ignorant, hat die falsche Perspektive und darum nicht die entfernteste Vorstellung davon, wie stark mich die schwarze Parade gemacht hat!

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Samstag, 10. März 2007
Weg ins Paradies
Er wachte nun schon das dritte Mal hintereinander zu einer Zeit auf, als die Nacht das Haus noch in tiefe Dunkelheit hüllte und nur der Mond ein wenig milchiges Licht in das Zimmer warf.
Die Aufregung in ihm machte es unmöglich, dass er wieder einschlief.
Er probierte es, drehte sich von einer Seite auf die andere, aber es kam ihm vor, als wollte ihn sein Bett nicht mehr. Angesichts des heutigen Ereignisses verwunderte ihn die innere Unruhe keineswegs. Sein Training war lang und hart und zwang ihn zu einigen Opfern. Stand er der Aktion anfangs auch noch ablehnend gegenüber, hatte er sie schon bald verinnerlicht und am Ende der Ausbildung sein ganzes Leben darauf ausgerichtet, nur auf diesen einen Tag. Zumindest glaubte er das in den meisten Momenten. Die wenigen Zweifel, die trotzdem blieben und manchmal, ganz unerwartet und vor allem unerwünscht auftauchten, konnte er kontrollieren.
Dabei half ihm besonders die in Aussicht gestellte Belohnung.
Er würde in aller Frühe aufbrechen, ohne seine Eltern zu wecken, denn sie hatten ihm schon gestern alles Gute gewünscht. Am heutigen Tag bekam er die Chance, sie Stolz zu machen.
Ein wenig waren sie das ohnehin schon, schließlich galt er als hervorragender Schüler,
in der Nachbarschaft schätzte man ihn als hilfsbereiten Jungen, und jeder, der ihn kannte, lobte sein zurückhaltend-charmantes Auftreten.
Ihm war das bewusst, doch ausnutzen würde er es nie.
Er blickte aus dem Fenster, hinein in den leuchtenden Vollmond, und hoffte, dass seine Zweifel in den nächsten Stunden nicht zurückkehren würden.
So saß er da, abwechselnd betend und denkend, bis der Mond von einer langsam aufgehenden Sonne verdrängt wurde.
Dann stand er auf, nahm seinen Rucksack, und verließ ohne zurückzublicken das Haus. Sein Weg führte ihn Richtung Innenstadt, zu einer Bushaltestelle.
Als er sein Dorf fast hinter sich gelassen hatte, hörte er in einiger Entfernung eine Stimme, die seinen Namen rief.
Er wusste, wem sie gehörte, und deshalb entschied er sich, stehen zu bleiben.
Wenige Sekunden später stand das Mädchen, dessen Stimme seinen Namen so eindringlich gerufen hatte, keuchend vor ihm.
„Willst Du einfach gehen, ohne Dich zu verabschieden?“
Er sah sie nicht an.
„Dachte, ich hätte es gestern getan.“
Ihre Stimme wurde energischer.
„Ok, davon habe ich wohl nichts mitbekommen.“
Auf seinem Gesicht zeichnete sich nun ein entschuldigendes Lächeln ab.
„Das tut mir Leid. Aber weißt Du, es ist nicht so, dass wir uns nie wiedersehen werden.“
Sie trat jetzt ein wenig näher an ihn heran.
„Du musst nicht tun, was Du vorhast. Glaube mir bitte, es gibt andere Möglichkeiten, es gibt immer andere Möglichkeiten.“
Sein Lächeln verschwand, der Blick wurde härter.
„Nein, manchmal nicht. Du verstehst das nicht, aber ich mache Dir deswegen keinen Vorwurf.“
Mit diesen Worten drehte er sich um und ließ sie stehen. Es fiel ihm nicht leicht, weil er sie mochte, aber er wollte nicht, dass sie wieder die verhassten Zweifel in ihm weckte.
Nachdem er endlich die Bushaltestelle erreicht hatte, stellte er sich direkt neben das Haltestellenschild und wartete. Mit der Zeit füllte sich der Platz neben ihm mit Menschen.
Er konnte froh sein, wenn er noch einen Sitzplatz bekam.
„Habe ich etwas mit diesem Leuten gemeinsam, außer, dass wir alle in den selben Bus möchten?“
Als der Bus kam, wollte er als erster einsteigen. Doch ein kleines Mädchen, welches die Busfahrt wohl gar nicht mehr erwarten konnte, drängelte sich vor ihn und stieß ihm dabei gegen sein Bein. Die Mutter folge ihr und entschuldigte sich sofort leicht verlegen für ihre kleine Tochter.
„Das macht doch nichts“, entgegnete er lächelnd,
„ich bin in dem Alter auch am liebsten Bus gefahren.“
Er setzte sich auf einen Platz am Fenster, wohl um noch ein wenig die aufwachende Stadt zu beobachten. Die Menschen außerhalb des Busses gingen weiter ihrem Tagesgeschäft nach, für ihn wirkte es ziellos, so vollkommen ohne Sinn.
„Ich kann mich glücklich schätzen, meinem Leben eine Richtung gegeben zu haben.“
Als er zurück in den Bus schaute, bemerkte er das kleine Mädchen, welches ihn eben angerempelt hatte und nun auf dem Platz direkt gegenüber saß.
Ihre kleinen Hände umklammerten ein Buch, auf dessen Vorderseite
„Die schönsten Märchen für Kinder“ stand.
Es erinnerte ihn dunkel daran, wie er früher auch ein paar von ihnen gelesen hatte, doch gefallen haben ihm immer nur die mit Happy End.
Die großen, interessierten Augen des kleinen Mädchens rissen ihn aus seinen Gedanken, in dem sie ihn unaufhörlich anblickten.
Je länger sie das taten, desto mehr kamen seine Zweifel zurück.
Es gab nichts, vor dem er sich mehr fürchtete und er wusste, dass die Zeit zum Handeln gekommen war.

Sie stellte den Fernseher ab und setzte sich auf die Couch.
Eine Träne lief ihr über das Gesicht, doch sie wischte sie nicht weg, denn schließlich war sie alleine in der Wohnung.
In den Nachrichten hatten sie wieder von der Explosion eines Busses in der Innenstadt berichtet, bei dem alle Fahrgäste umkamen.
Die genauen Ursachen waren noch ungeklärt, aber die Behörden gingen von einem Selbstmordanschlag aus.
Sie dachte, dass sie sich an die Fernsehbilder mit dem ganzen Chaos der umherlaufenden Rettungsleute, dem Blut und den zerfetzten Leichen gewöhnt hatte, zumal ihr die Bilder nicht nur aus dem Fernsehen, sondern auch aus ihrem Alltag vertraut waren.
Aber dieses Mal war es irgendwie persönlicher, näher und echter.
Trotzdem ließ sie ein wenig Hoffnung zu, gerade soviel, um nicht vollkommen zu verzweifeln. Und obwohl sie wusste, wie irrational sie sich damit verhielt, wollte sie ihre Hoffnung erst aufgeben, wenn er bis morgen nicht zurückgekehrt sein würde.
„Hoffentlich haben Deine Zweifel dafür gesorgt, dass Du Dich richtig entschieden hast.
Hoffentlich hast Du nie aufgehört zu zweifeln.“

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Samstag, 3. März 2007
Lügenmärchen
„Sind wir gleich da?“
Eine Frage, wie sie wohl nur Kinder stellen können.
Voller Ungeduld, Naivität, aber auch Neugierde, und darum konnte sie ihrer Tochter nicht böse sein.
Die Kleine, gerade neun Jahre alt geworden, saß rechts neben ihr auf dem Beifahrersitz.
„Süße, wir sind gleich da, es kann nicht mehr lange dauern.“
Damit wollte sich das Mädchen jedoch ganz und gar nicht zufrieden geben.
„Kannst Du denn nicht schneller fahren?“
Natürlich konnte sie das. Aber ob sie es auch wollte, stand auf einem anderen Blatt.
„Wenn ich schneller fahre, werden wir vielleicht einen Unfall haben. Willst Du das?“
Die Tochter antwortete diesmal nicht.
Ihre Mutter begann nun, sich wieder mehr auf den Verkehr zu konzentrieren, aber schnell kreisten die Gedanken erneut in eine andere Richtung. Wie immer konnte es die Kleine kaum erwarten, bei ihrem Opa anzukommen. Gerne brachte ihre Mutter sie nie dorthin, doch es gab im Moment keine andere Möglichkeit.
Er erzählte seiner Enkelin jedes Mal Geschichten, voller Drachen, Trollen und Elfen, die er angeblich während seiner Jugend erlebt hatte.
Seine Tochter wiederum war davon überzeugt, dass solche Lügengeschichten nichts für die unschuldigen Ohren ihrer kleinen Tochter seien. Doch hier lag nur ein Teil des Grundes für die Ablehnung, die sie gegenüber der Aussicht empfand, die Kleine für ein paar Stunden bei ihrem Opa zu lassen. Den anderen Teil gab sie vor sich selbst nur selten zu, und so beendete sie auch diesmal ihre Gedanken mit einem energischen Blick auf den Straßenverlauf vor ihr.
Bis zu dem Moment, in dem sie in die Straße am Wald einbogen, an deren Ende sich das kleine Haus des Opas befand, hatte die Kleine nichts mehr gesagt.
Ein wenig bereute ihre Mutter somit, dass sie vorhin so unfreundlich zu ihrer kleinen Tochter gewesen war.
„Hör mal Schatz, ich weiß, dass Du Dich auf Opa freust, besonders auf seine Geschichten. Aber weißt Du, er ist schon ein sehr alter Mann, und alte Menschen bringen Dinge oft durcheinander. Es gab niemals Trolle, Elfen oder Zwerge, egal, was er Dir erzählt. Es sind nur Märchen, ohne Bedeutung.“
Ihre Tochter nickte stumm, anschließend verließen beide das Auto.
Der Weg zum Haus führte durch einen Garten, der mindestens genauso verwildert war, wie der Wald auf der anderen Seite der Straße.
Von ihrem Opa wusste die Kleine, dass hinter all dem Gestrüpp ein Kobold wohnte, und zwar der letzte seiner Art. Dummerweise macht ihn das Sonnenlicht krank, weswegen der Opa ihm versprochen hatte, den Garten zuwachsen zu lassen.
Zum Dank zeigte ihm der Kobold eines Tages, wie man einen Trank herstellt, der einem auch im hohen Alter noch Gesundheit verschafft.
„Deshalb konnte Opa so alt werden“ dachte sich die Kleine.
Zur Begrüßung stand er wie gewöhnlich schon am Fenster und winkte den beiden zu.
Als er aber die Tür öffnete, befand sich zunächst nur seine Tochter davor, die ihn mit einem kühlen „Hallo“ begrüßte.
Viel wichtiger und für den Opa schon lange bekannt war jedoch ihr Blick, mit dem sie ihn kurz aber kritisch musterte.
„Es ist alles in Ordnung, mach Dir keine Sorgen.“
Obwohl nicht hinlänglich überzeugt, trat sie nun einen Schritt zur Seite, damit die Enkelin ihren Opa begrüßen konnte. Anschließend küsste sie die Kleine auf die Stirn und verabschiedete sich.
Nun war die Kleine mit ihrem Opa alleine.
Sie folgte ihm wie immer in das Wohnzimmer, mit dem alten Kamin und dem noch viel älteren Sessel, in dem der Opa Platz nahm. Sie hingegen setzte sich auf die Couch, und zwar nahe genug, um an den Tisch zu kommen, auf dem die Plätzchen standen.
„Das Rezept hat mir der Kobold verraten, als Entschuldigung dafür, dass er vor einigen Nächten draußen so einen Krach gemacht hat. Ich glaube, der dreht allmählich durch. Naja, der Jüngste ist er nicht mehr, und außerdem hat er ja keinen Artgenossen bei sich. Wahrscheinlich ist er einfach einsam, der arme Kerl.
Aber die Plätzchen sind spitze, probier mal.“
Doch die Kleine sagte nur „nein danke“ und rutschte zurück auf die Couch.
Der Blick ihres Opas wurde besorgter.
„Was hast Du denn?“
Die Kleine wollte erst nichts erwidern, tat es schließlich aber doch.
„Mama sagt, dass Du Lügengeschichten erzählst. Es gibt nämlich in Wirklichkeit gar keine Kobolde.“
Nun musste ihr Opa ein wenig lächeln.
„Nun, mich wundert nicht, dass Deine Mutter so denkt. Sie hat ja auch nie welche gesehen, weil der Kobold da draußen der letzte ist, den es gibt. Früher, als ich noch jung war, ein paar Jahre älter als Du jetzt, da war das anders. Weißt Du, es ist so:
Ich erinnere mich nicht mehr an alle Details, da ich alt bin. Aber die ganzen Geschichten, die ich Dir erzähle, beinhalten trotzdem immer ein wenig Wahrheit.
Und weil Du meine kluge Enkelin bist, weiß ich, dass Du sie verstehst.“
Jetzt musste die Kleine wieder lächeln, und kurz darauf verschwand das erste Plätzchen in ihrem Mund.
„Also, was ist, willst Du noch eine Geschichte von früher hören?“
Da sie mit vollem Mund nicht sprechen wollte, nickte sie nur.
Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und begann zu erzählen, wie es nur Opas können.
„Einmal, da schickte mich mein Vater in die Stadt, um dort etwas zu besorgen, was er unbedingt brauchte. Ich habe vergessen, was es war, aber das ist auch egal.
Der Weg zur Stadt führte durch einen ungemein großen und vor allem sehr dicht bewachsenen Wald. Deshalb sagte mir mein Vater, dass ich Karte und Kompass mitnehmen sollte, um den richtigen Weg nicht zu verlieren. Blöderweise fiel mir beides irgendwann im Wald aus der Tasche, ohne dass ich es bemerkte. So stand ich also da, mitten im Wald, alleine, und hatte keine Ahnung mehr, welchen Weg ich nehmen sollte.
Du kannst Dir ja denken, dass ich Angst bekam, denn zu allem Überfluss begann es auch noch langsam dunkel zu werden.
Ich irrte Stunden lang umher, bis ich zu einer Höhle kam, die in eine Felswand führte. Da es mittlerweile längst Nacht geworden war, beschloss ich, dort zu schlafen. Doch als ich einige Schritte in die Höhle gemacht hatte, hörte ich hinter mir ein Geräusch. Es klang so, als ob etwas sehr Großes in Richtung Höhle lief und dabei alles platt trampelte, was ihm unter die Füße kam.“
An dieser Stelle der Geschichte bemerkte der Opa, dass seine Enkelin aufgehört hatte, die Plätzchen zu essen und ihre Augen geweitet waren.
„Keine Angst mein Schatz, so schlimm, wie es sich anhörte, wurde es für mich gar nicht. Die Schritte kamen zwar von einem Riesen, aber so groß war der noch nicht, weil er erst höchstens 200 Jahre auf dem Buckel hatte. Und Du weißt ja, dass das für einen Riesen nicht viel ist.“
Plötzlich unterbrach ihn seine Enkelin.
„Hat der Riese Dich aus seiner Höhle geschmissen?“
Ihr Opa überlegte einen Moment.
„Ich habe zwar noch gar nicht erwähnt, dass es seine Höhle war, aber Recht hast Du natürlich trotzdem. Ja, er wollte mich rausschmeißen. Ich aber erklärte ihm, dass ich mich verlaufen habe und dringend einen Platz zum Schlafen brauchte.
Da schlug mir der Riese einen Wettkampf vor. Wenn es mir gelänge, ihn zu Fall zu bringen, würde er mir einen Trank geben, mit dem ich den richtigen Weg aus dem Wald herausfinden könnte. Allerdings würde der Riese dabei alles daran setzen, mich mit seinen großen Händen zu zerquetschen.
Aber da ich sowieso keine anderen Möglichkeiten hatte, ließ ich mich auf einen Wettkampf mit ihm ein. Kannst Du Dir denken, wie ich ihn besiegt habe?“
Die Kleine schüttelte ihren Kopf, vollkommen gebannt von der Geschichte.
„Mir war natürlich klar, dass meine Kraft nicht ausreichte, um den Riesen zu Fall zu bringen.
Als ich ihm jedoch ein paar Mal nur gerade so ausweichen konnte, da kam mir endlich die rettende Idee: Ich begann, so schnell ich konnte um den Riesen herum zu rennen, immer in die selbe Richtung. Und da er nicht der hellste war, drehte er sich mit mir. Nach etwa zehn Minuten wurde dem Riesen dann schwindelig und er fiel einfach um. Ich musste ganz schön aufpassen, dass er mich nicht unter sich begrub.
Danach konnte ich ihm dann endlich den Trank aus der Hose ziehen. Ich merkte, dass der Riese nicht gelogen hatte, denn schon nach einem Schluck wusste ich plötzlich, wohin ich gehen musste.“
Hier klatschte die Kleine vor Freude und Erleichterung in die Hände.
Der Gesichtsausdruck ihres Opas verhieß zwar für einen Moment Freude darüber, dass die Kleine von der Geschichte so gefesselt wurde, aber recht bald mischte sich ein wenig Besorgnis darunter. Er hatte seiner Enkelin nicht die ganze Geschichte erzählt, konnte es nicht tun. Denn wie bei fast allem im Leben gab es auch bei dem Trank einen entscheidenden Nachteil, eine Nebenwirkung sozusagen.
Nachdem man ein wenig davon getrunken hatte, kannte man zwar den Weg.
Doch jeder Schluck weckte das Bedürfnis nach einem weiteren, und je mehr man trank, desto falscher wurde auch der Weg.
Seine Enkelin weckte ihn aus diesen düsteren Gedanken.
„Opa, hast Du den Trank immer noch hier in Deinem Haus?“
Er schaute nun hinaus aus dem Fenster, direkt in seinen verwilderten Garten.
„Nein mein Schatz, ich habe ihn schon vor langer Zeit ausgetrunken, es ist nichts mehr davon übrig.“
Nun sah sie ihn mit ihren großen neugierigen Augen an, als wären alle Fragen dieser Welt darin verborgen.
„Aber wie findest Du denn jetzt den Weg, wenn Du Dich mal verläufst?“
In diesem Moment stand der Opa auf, ging zu seiner Enkelin hinüber und nahm sie in den Arm.
„Es ist besser, wenn Du Deinen Weg alleine finden kannst, ohne Zaubertrank.“
So hielt er die Kleine im Arm, und erzählte ihr eine weitere Geschichte aus seiner Jugend, voller Riesen, Trollen und Kobolde. Erst das Türklingeln holte beide wieder zurück in die Gegenwart.
Nachdem seine Enkelin von ihrer Mutter abgeholt wurde, wollte er ins Bett gehen.
Auf dem Weg ins Schlafzimmer blieb er aber wie so oft vor dem alten Schrank stehen, der sich am Ende des Korridors befand. Hier konnte er die Tränen nicht mehr unterdrücken, denn er hasste sich dafür, die Kleine angelogen zu haben.
Er wollte es nicht, doch blieb ihm in seiner Verzweiflung keine andere Wahl.
„Du dummer alter Mann. Schaffst es nicht, ihr die ganze Geschichte zu erzählen.
Schwach und töricht bist Du, nichts anderes.“
Seine Hände begannen zu zittern, als er sie langsam in die Höhe nahm.
In der obersten Schublade des alten Schranks stand schon seit Jahren eine Flasche des Trankes, den er damals von dem Riesen bekommen hatte.
Sie war keineswegs leer, sondern half ihm oft, wenn er den Weg nicht mehr zu wissen glaubte.

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