Samstag, 3. März 2007
Lügenmärchen
tobi-wan, 15:34h
„Sind wir gleich da?“
Eine Frage, wie sie wohl nur Kinder stellen können.
Voller Ungeduld, Naivität, aber auch Neugierde, und darum konnte sie ihrer Tochter nicht böse sein.
Die Kleine, gerade neun Jahre alt geworden, saß rechts neben ihr auf dem Beifahrersitz.
„Süße, wir sind gleich da, es kann nicht mehr lange dauern.“
Damit wollte sich das Mädchen jedoch ganz und gar nicht zufrieden geben.
„Kannst Du denn nicht schneller fahren?“
Natürlich konnte sie das. Aber ob sie es auch wollte, stand auf einem anderen Blatt.
„Wenn ich schneller fahre, werden wir vielleicht einen Unfall haben. Willst Du das?“
Die Tochter antwortete diesmal nicht.
Ihre Mutter begann nun, sich wieder mehr auf den Verkehr zu konzentrieren, aber schnell kreisten die Gedanken erneut in eine andere Richtung. Wie immer konnte es die Kleine kaum erwarten, bei ihrem Opa anzukommen. Gerne brachte ihre Mutter sie nie dorthin, doch es gab im Moment keine andere Möglichkeit.
Er erzählte seiner Enkelin jedes Mal Geschichten, voller Drachen, Trollen und Elfen, die er angeblich während seiner Jugend erlebt hatte.
Seine Tochter wiederum war davon überzeugt, dass solche Lügengeschichten nichts für die unschuldigen Ohren ihrer kleinen Tochter seien. Doch hier lag nur ein Teil des Grundes für die Ablehnung, die sie gegenüber der Aussicht empfand, die Kleine für ein paar Stunden bei ihrem Opa zu lassen. Den anderen Teil gab sie vor sich selbst nur selten zu, und so beendete sie auch diesmal ihre Gedanken mit einem energischen Blick auf den Straßenverlauf vor ihr.
Bis zu dem Moment, in dem sie in die Straße am Wald einbogen, an deren Ende sich das kleine Haus des Opas befand, hatte die Kleine nichts mehr gesagt.
Ein wenig bereute ihre Mutter somit, dass sie vorhin so unfreundlich zu ihrer kleinen Tochter gewesen war.
„Hör mal Schatz, ich weiß, dass Du Dich auf Opa freust, besonders auf seine Geschichten. Aber weißt Du, er ist schon ein sehr alter Mann, und alte Menschen bringen Dinge oft durcheinander. Es gab niemals Trolle, Elfen oder Zwerge, egal, was er Dir erzählt. Es sind nur Märchen, ohne Bedeutung.“
Ihre Tochter nickte stumm, anschließend verließen beide das Auto.
Der Weg zum Haus führte durch einen Garten, der mindestens genauso verwildert war, wie der Wald auf der anderen Seite der Straße.
Von ihrem Opa wusste die Kleine, dass hinter all dem Gestrüpp ein Kobold wohnte, und zwar der letzte seiner Art. Dummerweise macht ihn das Sonnenlicht krank, weswegen der Opa ihm versprochen hatte, den Garten zuwachsen zu lassen.
Zum Dank zeigte ihm der Kobold eines Tages, wie man einen Trank herstellt, der einem auch im hohen Alter noch Gesundheit verschafft.
„Deshalb konnte Opa so alt werden“ dachte sich die Kleine.
Zur Begrüßung stand er wie gewöhnlich schon am Fenster und winkte den beiden zu.
Als er aber die Tür öffnete, befand sich zunächst nur seine Tochter davor, die ihn mit einem kühlen „Hallo“ begrüßte.
Viel wichtiger und für den Opa schon lange bekannt war jedoch ihr Blick, mit dem sie ihn kurz aber kritisch musterte.
„Es ist alles in Ordnung, mach Dir keine Sorgen.“
Obwohl nicht hinlänglich überzeugt, trat sie nun einen Schritt zur Seite, damit die Enkelin ihren Opa begrüßen konnte. Anschließend küsste sie die Kleine auf die Stirn und verabschiedete sich.
Nun war die Kleine mit ihrem Opa alleine.
Sie folgte ihm wie immer in das Wohnzimmer, mit dem alten Kamin und dem noch viel älteren Sessel, in dem der Opa Platz nahm. Sie hingegen setzte sich auf die Couch, und zwar nahe genug, um an den Tisch zu kommen, auf dem die Plätzchen standen.
„Das Rezept hat mir der Kobold verraten, als Entschuldigung dafür, dass er vor einigen Nächten draußen so einen Krach gemacht hat. Ich glaube, der dreht allmählich durch. Naja, der Jüngste ist er nicht mehr, und außerdem hat er ja keinen Artgenossen bei sich. Wahrscheinlich ist er einfach einsam, der arme Kerl.
Aber die Plätzchen sind spitze, probier mal.“
Doch die Kleine sagte nur „nein danke“ und rutschte zurück auf die Couch.
Der Blick ihres Opas wurde besorgter.
„Was hast Du denn?“
Die Kleine wollte erst nichts erwidern, tat es schließlich aber doch.
„Mama sagt, dass Du Lügengeschichten erzählst. Es gibt nämlich in Wirklichkeit gar keine Kobolde.“
Nun musste ihr Opa ein wenig lächeln.
„Nun, mich wundert nicht, dass Deine Mutter so denkt. Sie hat ja auch nie welche gesehen, weil der Kobold da draußen der letzte ist, den es gibt. Früher, als ich noch jung war, ein paar Jahre älter als Du jetzt, da war das anders. Weißt Du, es ist so:
Ich erinnere mich nicht mehr an alle Details, da ich alt bin. Aber die ganzen Geschichten, die ich Dir erzähle, beinhalten trotzdem immer ein wenig Wahrheit.
Und weil Du meine kluge Enkelin bist, weiß ich, dass Du sie verstehst.“
Jetzt musste die Kleine wieder lächeln, und kurz darauf verschwand das erste Plätzchen in ihrem Mund.
„Also, was ist, willst Du noch eine Geschichte von früher hören?“
Da sie mit vollem Mund nicht sprechen wollte, nickte sie nur.
Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und begann zu erzählen, wie es nur Opas können.
„Einmal, da schickte mich mein Vater in die Stadt, um dort etwas zu besorgen, was er unbedingt brauchte. Ich habe vergessen, was es war, aber das ist auch egal.
Der Weg zur Stadt führte durch einen ungemein großen und vor allem sehr dicht bewachsenen Wald. Deshalb sagte mir mein Vater, dass ich Karte und Kompass mitnehmen sollte, um den richtigen Weg nicht zu verlieren. Blöderweise fiel mir beides irgendwann im Wald aus der Tasche, ohne dass ich es bemerkte. So stand ich also da, mitten im Wald, alleine, und hatte keine Ahnung mehr, welchen Weg ich nehmen sollte.
Du kannst Dir ja denken, dass ich Angst bekam, denn zu allem Überfluss begann es auch noch langsam dunkel zu werden.
Ich irrte Stunden lang umher, bis ich zu einer Höhle kam, die in eine Felswand führte. Da es mittlerweile längst Nacht geworden war, beschloss ich, dort zu schlafen. Doch als ich einige Schritte in die Höhle gemacht hatte, hörte ich hinter mir ein Geräusch. Es klang so, als ob etwas sehr Großes in Richtung Höhle lief und dabei alles platt trampelte, was ihm unter die Füße kam.“
An dieser Stelle der Geschichte bemerkte der Opa, dass seine Enkelin aufgehört hatte, die Plätzchen zu essen und ihre Augen geweitet waren.
„Keine Angst mein Schatz, so schlimm, wie es sich anhörte, wurde es für mich gar nicht. Die Schritte kamen zwar von einem Riesen, aber so groß war der noch nicht, weil er erst höchstens 200 Jahre auf dem Buckel hatte. Und Du weißt ja, dass das für einen Riesen nicht viel ist.“
Plötzlich unterbrach ihn seine Enkelin.
„Hat der Riese Dich aus seiner Höhle geschmissen?“
Ihr Opa überlegte einen Moment.
„Ich habe zwar noch gar nicht erwähnt, dass es seine Höhle war, aber Recht hast Du natürlich trotzdem. Ja, er wollte mich rausschmeißen. Ich aber erklärte ihm, dass ich mich verlaufen habe und dringend einen Platz zum Schlafen brauchte.
Da schlug mir der Riese einen Wettkampf vor. Wenn es mir gelänge, ihn zu Fall zu bringen, würde er mir einen Trank geben, mit dem ich den richtigen Weg aus dem Wald herausfinden könnte. Allerdings würde der Riese dabei alles daran setzen, mich mit seinen großen Händen zu zerquetschen.
Aber da ich sowieso keine anderen Möglichkeiten hatte, ließ ich mich auf einen Wettkampf mit ihm ein. Kannst Du Dir denken, wie ich ihn besiegt habe?“
Die Kleine schüttelte ihren Kopf, vollkommen gebannt von der Geschichte.
„Mir war natürlich klar, dass meine Kraft nicht ausreichte, um den Riesen zu Fall zu bringen.
Als ich ihm jedoch ein paar Mal nur gerade so ausweichen konnte, da kam mir endlich die rettende Idee: Ich begann, so schnell ich konnte um den Riesen herum zu rennen, immer in die selbe Richtung. Und da er nicht der hellste war, drehte er sich mit mir. Nach etwa zehn Minuten wurde dem Riesen dann schwindelig und er fiel einfach um. Ich musste ganz schön aufpassen, dass er mich nicht unter sich begrub.
Danach konnte ich ihm dann endlich den Trank aus der Hose ziehen. Ich merkte, dass der Riese nicht gelogen hatte, denn schon nach einem Schluck wusste ich plötzlich, wohin ich gehen musste.“
Hier klatschte die Kleine vor Freude und Erleichterung in die Hände.
Der Gesichtsausdruck ihres Opas verhieß zwar für einen Moment Freude darüber, dass die Kleine von der Geschichte so gefesselt wurde, aber recht bald mischte sich ein wenig Besorgnis darunter. Er hatte seiner Enkelin nicht die ganze Geschichte erzählt, konnte es nicht tun. Denn wie bei fast allem im Leben gab es auch bei dem Trank einen entscheidenden Nachteil, eine Nebenwirkung sozusagen.
Nachdem man ein wenig davon getrunken hatte, kannte man zwar den Weg.
Doch jeder Schluck weckte das Bedürfnis nach einem weiteren, und je mehr man trank, desto falscher wurde auch der Weg.
Seine Enkelin weckte ihn aus diesen düsteren Gedanken.
„Opa, hast Du den Trank immer noch hier in Deinem Haus?“
Er schaute nun hinaus aus dem Fenster, direkt in seinen verwilderten Garten.
„Nein mein Schatz, ich habe ihn schon vor langer Zeit ausgetrunken, es ist nichts mehr davon übrig.“
Nun sah sie ihn mit ihren großen neugierigen Augen an, als wären alle Fragen dieser Welt darin verborgen.
„Aber wie findest Du denn jetzt den Weg, wenn Du Dich mal verläufst?“
In diesem Moment stand der Opa auf, ging zu seiner Enkelin hinüber und nahm sie in den Arm.
„Es ist besser, wenn Du Deinen Weg alleine finden kannst, ohne Zaubertrank.“
So hielt er die Kleine im Arm, und erzählte ihr eine weitere Geschichte aus seiner Jugend, voller Riesen, Trollen und Kobolde. Erst das Türklingeln holte beide wieder zurück in die Gegenwart.
Nachdem seine Enkelin von ihrer Mutter abgeholt wurde, wollte er ins Bett gehen.
Auf dem Weg ins Schlafzimmer blieb er aber wie so oft vor dem alten Schrank stehen, der sich am Ende des Korridors befand. Hier konnte er die Tränen nicht mehr unterdrücken, denn er hasste sich dafür, die Kleine angelogen zu haben.
Er wollte es nicht, doch blieb ihm in seiner Verzweiflung keine andere Wahl.
„Du dummer alter Mann. Schaffst es nicht, ihr die ganze Geschichte zu erzählen.
Schwach und töricht bist Du, nichts anderes.“
Seine Hände begannen zu zittern, als er sie langsam in die Höhe nahm.
In der obersten Schublade des alten Schranks stand schon seit Jahren eine Flasche des Trankes, den er damals von dem Riesen bekommen hatte.
Sie war keineswegs leer, sondern half ihm oft, wenn er den Weg nicht mehr zu wissen glaubte.
Eine Frage, wie sie wohl nur Kinder stellen können.
Voller Ungeduld, Naivität, aber auch Neugierde, und darum konnte sie ihrer Tochter nicht böse sein.
Die Kleine, gerade neun Jahre alt geworden, saß rechts neben ihr auf dem Beifahrersitz.
„Süße, wir sind gleich da, es kann nicht mehr lange dauern.“
Damit wollte sich das Mädchen jedoch ganz und gar nicht zufrieden geben.
„Kannst Du denn nicht schneller fahren?“
Natürlich konnte sie das. Aber ob sie es auch wollte, stand auf einem anderen Blatt.
„Wenn ich schneller fahre, werden wir vielleicht einen Unfall haben. Willst Du das?“
Die Tochter antwortete diesmal nicht.
Ihre Mutter begann nun, sich wieder mehr auf den Verkehr zu konzentrieren, aber schnell kreisten die Gedanken erneut in eine andere Richtung. Wie immer konnte es die Kleine kaum erwarten, bei ihrem Opa anzukommen. Gerne brachte ihre Mutter sie nie dorthin, doch es gab im Moment keine andere Möglichkeit.
Er erzählte seiner Enkelin jedes Mal Geschichten, voller Drachen, Trollen und Elfen, die er angeblich während seiner Jugend erlebt hatte.
Seine Tochter wiederum war davon überzeugt, dass solche Lügengeschichten nichts für die unschuldigen Ohren ihrer kleinen Tochter seien. Doch hier lag nur ein Teil des Grundes für die Ablehnung, die sie gegenüber der Aussicht empfand, die Kleine für ein paar Stunden bei ihrem Opa zu lassen. Den anderen Teil gab sie vor sich selbst nur selten zu, und so beendete sie auch diesmal ihre Gedanken mit einem energischen Blick auf den Straßenverlauf vor ihr.
Bis zu dem Moment, in dem sie in die Straße am Wald einbogen, an deren Ende sich das kleine Haus des Opas befand, hatte die Kleine nichts mehr gesagt.
Ein wenig bereute ihre Mutter somit, dass sie vorhin so unfreundlich zu ihrer kleinen Tochter gewesen war.
„Hör mal Schatz, ich weiß, dass Du Dich auf Opa freust, besonders auf seine Geschichten. Aber weißt Du, er ist schon ein sehr alter Mann, und alte Menschen bringen Dinge oft durcheinander. Es gab niemals Trolle, Elfen oder Zwerge, egal, was er Dir erzählt. Es sind nur Märchen, ohne Bedeutung.“
Ihre Tochter nickte stumm, anschließend verließen beide das Auto.
Der Weg zum Haus führte durch einen Garten, der mindestens genauso verwildert war, wie der Wald auf der anderen Seite der Straße.
Von ihrem Opa wusste die Kleine, dass hinter all dem Gestrüpp ein Kobold wohnte, und zwar der letzte seiner Art. Dummerweise macht ihn das Sonnenlicht krank, weswegen der Opa ihm versprochen hatte, den Garten zuwachsen zu lassen.
Zum Dank zeigte ihm der Kobold eines Tages, wie man einen Trank herstellt, der einem auch im hohen Alter noch Gesundheit verschafft.
„Deshalb konnte Opa so alt werden“ dachte sich die Kleine.
Zur Begrüßung stand er wie gewöhnlich schon am Fenster und winkte den beiden zu.
Als er aber die Tür öffnete, befand sich zunächst nur seine Tochter davor, die ihn mit einem kühlen „Hallo“ begrüßte.
Viel wichtiger und für den Opa schon lange bekannt war jedoch ihr Blick, mit dem sie ihn kurz aber kritisch musterte.
„Es ist alles in Ordnung, mach Dir keine Sorgen.“
Obwohl nicht hinlänglich überzeugt, trat sie nun einen Schritt zur Seite, damit die Enkelin ihren Opa begrüßen konnte. Anschließend küsste sie die Kleine auf die Stirn und verabschiedete sich.
Nun war die Kleine mit ihrem Opa alleine.
Sie folgte ihm wie immer in das Wohnzimmer, mit dem alten Kamin und dem noch viel älteren Sessel, in dem der Opa Platz nahm. Sie hingegen setzte sich auf die Couch, und zwar nahe genug, um an den Tisch zu kommen, auf dem die Plätzchen standen.
„Das Rezept hat mir der Kobold verraten, als Entschuldigung dafür, dass er vor einigen Nächten draußen so einen Krach gemacht hat. Ich glaube, der dreht allmählich durch. Naja, der Jüngste ist er nicht mehr, und außerdem hat er ja keinen Artgenossen bei sich. Wahrscheinlich ist er einfach einsam, der arme Kerl.
Aber die Plätzchen sind spitze, probier mal.“
Doch die Kleine sagte nur „nein danke“ und rutschte zurück auf die Couch.
Der Blick ihres Opas wurde besorgter.
„Was hast Du denn?“
Die Kleine wollte erst nichts erwidern, tat es schließlich aber doch.
„Mama sagt, dass Du Lügengeschichten erzählst. Es gibt nämlich in Wirklichkeit gar keine Kobolde.“
Nun musste ihr Opa ein wenig lächeln.
„Nun, mich wundert nicht, dass Deine Mutter so denkt. Sie hat ja auch nie welche gesehen, weil der Kobold da draußen der letzte ist, den es gibt. Früher, als ich noch jung war, ein paar Jahre älter als Du jetzt, da war das anders. Weißt Du, es ist so:
Ich erinnere mich nicht mehr an alle Details, da ich alt bin. Aber die ganzen Geschichten, die ich Dir erzähle, beinhalten trotzdem immer ein wenig Wahrheit.
Und weil Du meine kluge Enkelin bist, weiß ich, dass Du sie verstehst.“
Jetzt musste die Kleine wieder lächeln, und kurz darauf verschwand das erste Plätzchen in ihrem Mund.
„Also, was ist, willst Du noch eine Geschichte von früher hören?“
Da sie mit vollem Mund nicht sprechen wollte, nickte sie nur.
Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und begann zu erzählen, wie es nur Opas können.
„Einmal, da schickte mich mein Vater in die Stadt, um dort etwas zu besorgen, was er unbedingt brauchte. Ich habe vergessen, was es war, aber das ist auch egal.
Der Weg zur Stadt führte durch einen ungemein großen und vor allem sehr dicht bewachsenen Wald. Deshalb sagte mir mein Vater, dass ich Karte und Kompass mitnehmen sollte, um den richtigen Weg nicht zu verlieren. Blöderweise fiel mir beides irgendwann im Wald aus der Tasche, ohne dass ich es bemerkte. So stand ich also da, mitten im Wald, alleine, und hatte keine Ahnung mehr, welchen Weg ich nehmen sollte.
Du kannst Dir ja denken, dass ich Angst bekam, denn zu allem Überfluss begann es auch noch langsam dunkel zu werden.
Ich irrte Stunden lang umher, bis ich zu einer Höhle kam, die in eine Felswand führte. Da es mittlerweile längst Nacht geworden war, beschloss ich, dort zu schlafen. Doch als ich einige Schritte in die Höhle gemacht hatte, hörte ich hinter mir ein Geräusch. Es klang so, als ob etwas sehr Großes in Richtung Höhle lief und dabei alles platt trampelte, was ihm unter die Füße kam.“
An dieser Stelle der Geschichte bemerkte der Opa, dass seine Enkelin aufgehört hatte, die Plätzchen zu essen und ihre Augen geweitet waren.
„Keine Angst mein Schatz, so schlimm, wie es sich anhörte, wurde es für mich gar nicht. Die Schritte kamen zwar von einem Riesen, aber so groß war der noch nicht, weil er erst höchstens 200 Jahre auf dem Buckel hatte. Und Du weißt ja, dass das für einen Riesen nicht viel ist.“
Plötzlich unterbrach ihn seine Enkelin.
„Hat der Riese Dich aus seiner Höhle geschmissen?“
Ihr Opa überlegte einen Moment.
„Ich habe zwar noch gar nicht erwähnt, dass es seine Höhle war, aber Recht hast Du natürlich trotzdem. Ja, er wollte mich rausschmeißen. Ich aber erklärte ihm, dass ich mich verlaufen habe und dringend einen Platz zum Schlafen brauchte.
Da schlug mir der Riese einen Wettkampf vor. Wenn es mir gelänge, ihn zu Fall zu bringen, würde er mir einen Trank geben, mit dem ich den richtigen Weg aus dem Wald herausfinden könnte. Allerdings würde der Riese dabei alles daran setzen, mich mit seinen großen Händen zu zerquetschen.
Aber da ich sowieso keine anderen Möglichkeiten hatte, ließ ich mich auf einen Wettkampf mit ihm ein. Kannst Du Dir denken, wie ich ihn besiegt habe?“
Die Kleine schüttelte ihren Kopf, vollkommen gebannt von der Geschichte.
„Mir war natürlich klar, dass meine Kraft nicht ausreichte, um den Riesen zu Fall zu bringen.
Als ich ihm jedoch ein paar Mal nur gerade so ausweichen konnte, da kam mir endlich die rettende Idee: Ich begann, so schnell ich konnte um den Riesen herum zu rennen, immer in die selbe Richtung. Und da er nicht der hellste war, drehte er sich mit mir. Nach etwa zehn Minuten wurde dem Riesen dann schwindelig und er fiel einfach um. Ich musste ganz schön aufpassen, dass er mich nicht unter sich begrub.
Danach konnte ich ihm dann endlich den Trank aus der Hose ziehen. Ich merkte, dass der Riese nicht gelogen hatte, denn schon nach einem Schluck wusste ich plötzlich, wohin ich gehen musste.“
Hier klatschte die Kleine vor Freude und Erleichterung in die Hände.
Der Gesichtsausdruck ihres Opas verhieß zwar für einen Moment Freude darüber, dass die Kleine von der Geschichte so gefesselt wurde, aber recht bald mischte sich ein wenig Besorgnis darunter. Er hatte seiner Enkelin nicht die ganze Geschichte erzählt, konnte es nicht tun. Denn wie bei fast allem im Leben gab es auch bei dem Trank einen entscheidenden Nachteil, eine Nebenwirkung sozusagen.
Nachdem man ein wenig davon getrunken hatte, kannte man zwar den Weg.
Doch jeder Schluck weckte das Bedürfnis nach einem weiteren, und je mehr man trank, desto falscher wurde auch der Weg.
Seine Enkelin weckte ihn aus diesen düsteren Gedanken.
„Opa, hast Du den Trank immer noch hier in Deinem Haus?“
Er schaute nun hinaus aus dem Fenster, direkt in seinen verwilderten Garten.
„Nein mein Schatz, ich habe ihn schon vor langer Zeit ausgetrunken, es ist nichts mehr davon übrig.“
Nun sah sie ihn mit ihren großen neugierigen Augen an, als wären alle Fragen dieser Welt darin verborgen.
„Aber wie findest Du denn jetzt den Weg, wenn Du Dich mal verläufst?“
In diesem Moment stand der Opa auf, ging zu seiner Enkelin hinüber und nahm sie in den Arm.
„Es ist besser, wenn Du Deinen Weg alleine finden kannst, ohne Zaubertrank.“
So hielt er die Kleine im Arm, und erzählte ihr eine weitere Geschichte aus seiner Jugend, voller Riesen, Trollen und Kobolde. Erst das Türklingeln holte beide wieder zurück in die Gegenwart.
Nachdem seine Enkelin von ihrer Mutter abgeholt wurde, wollte er ins Bett gehen.
Auf dem Weg ins Schlafzimmer blieb er aber wie so oft vor dem alten Schrank stehen, der sich am Ende des Korridors befand. Hier konnte er die Tränen nicht mehr unterdrücken, denn er hasste sich dafür, die Kleine angelogen zu haben.
Er wollte es nicht, doch blieb ihm in seiner Verzweiflung keine andere Wahl.
„Du dummer alter Mann. Schaffst es nicht, ihr die ganze Geschichte zu erzählen.
Schwach und töricht bist Du, nichts anderes.“
Seine Hände begannen zu zittern, als er sie langsam in die Höhe nahm.
In der obersten Schublade des alten Schranks stand schon seit Jahren eine Flasche des Trankes, den er damals von dem Riesen bekommen hatte.
Sie war keineswegs leer, sondern half ihm oft, wenn er den Weg nicht mehr zu wissen glaubte.
... comment