Freitag, 15. Juni 2007
Auf nach Panama - Teil 2
Hallo, da bin ich wieder. Ihr erinnert Euch, der 35-jährige Kerl, der seinem Chef in einem Anfall beleidigender und völlig taktloser Ehrlichkeit gesagt hat, was für ein Idiot dieser doch ist und jetzt ohne Job dasteht. Egal, es wurde Zeit, das könnt ihr mir glauben.
Geld ist es momentan nicht, was mir fehlt, sondern etwas anderes.
Habe ne Weile gebraucht, um das rauszufinden…
Kennt ihr das: Ihr wacht morgens auf, und ihr wisst bereits ganz genau, wie der Tag verlaufen wird. Nicht in groben Zügen, sondern alles.
Every fucking detail! Sicherheit muss sein, klar. Aber wenn alle Möglichkeiten bereits zementiert sind, dann kann man früher oder später nicht mehr atmen.
Ich ging also aus diesem Büro raus, nach unten, trat ins Freie, und was machte ich dann?
Ich atmete zum ersten Mal!
Und als ich fertig war?
Dann galt es, eine Entscheidung zu treffen.
Was anfangen mit der neu gewonnenen Freiheit?
Was nun?
Tja, so ist das mit der Freiheit: Wenn man sie endlich hat, dann braucht es eine Weile, sich daran zu gewöhnen.
Dabei kommt es eigentlich nur darauf an, sich bewusst zu werden, was man will. Hier musste ich an die Worte meiner Mama denken:
„Junge, lern endlich, in Dich hineinzuhören!“
Danke Mama, aber das habe ich fast verlernt.
Ich probierte es trotzdem, denn Zeit dafür hatte ich ja jetzt genug, dank meines kleinen Auftritts vorm Chef.
Blöd nur, dass in mir alles so still war.
Nachdem ich also etwa zehn Minuten mit geschlossenen Augen vor der Tür des Bürogebäudes stand und meine innere Stimme mir jede Antwort verweigerte, sah ich ein, dass ich sie so nie zum Sprechen bekommen würde.
Bei Mama funktionierte es immer. Sie saß oft stundenlang auf diesem bunten Teppich im Wohnzimmer und lauschte ihrer inneren Stimme.
Als kleiner Junge fragte ich mich immer, wo dann dieser süßliche Geruch herkam, der sich bei Mamas Selbsterkennungs-Trip in der Wohnung zu verbreiten pflegte. Nach meiner ersten Oberschulparty wusste ich es. Für mich ergab sich nach dem Joint jedoch nur eine Erkenntnis: Wenn ein Mädchen Dir sagt, dass Du sie ankotzt, solltest Du dieser Aussage anschließend nicht auch noch eine wörtliche Bedeutung verleihen…
Ach, ich schweife ab.
Ich hatte Euch ja versprochen, zu erklären, warum mein Reisebericht „Auf nach Panama“ heißt.
Ich bin ehrlich: Von alleine wäre ich wohl nie auf die Idee gekommen, nach Panama zu reisen. Vermutlich würde ich immer noch vor dem Büro stehen und mich von meiner inneren Stimme anschweigen lassen.
Aber zu meinem Glück schenkten mir meine Eltern einen Bruder.
Unser Verhältnis war nie sehr eng, weil er irgendwann zu viel Zeit damit verbrachte, neben meiner Mutter auf dem bunten Teppich zu sitzen und auf die selbe eigentümliche Weise nach der inneren Stimme zu suchen, wie sie es tat.
Jetzt war er so eine Art Künstler und wohnte in einem eigenen Atelier, welches nur ein paar Straßen von meinem ehemaligen Büro entfernt lag. Ich habe seine Kunst nie so wirklich verstanden und konnte mich auch nicht richtig gegen den Eindruck wehren, dass seine Kunden weniger wegen der wirren Farbkleckse auf den Bildern zu ihm kamen, sonder eher wegen dieser besonderen Pflanzen, die er züchtete. Als ich ihm das einmal sagte, reagierte er beleidigt und bezeichnete mich als Kunstbanausen. Egal. In diesem Moment war mein Bruder der einzige, der mir eventuell helfen konnte, meine innere Stimme zum Sprechen zu bewegen.
Nachdem ich ihm meine Situation erklärt und er aufmerksam zugehört hatte, sagte er für eine halbe Minute nichts. Er starrte nur ins Leere und zwirbelte dabei mit der rechten Hand an einer seiner zahlreichen Rasta-Locken.
(Ich musste unweigerlich an eine Studie denken, die sich mit den negativen Auswirkungen von Marihuana auf das Reaktionsvermögen beschäftigte. Nachdem ich sie ihm mal ausgedruckt mitbrachte, diente sie ihm einige Tage später als Papier für einen Joint.)
Als ich begann, mir ernsthafte Sorgen um das geistige Wohlbefinden meines Bruders zu machen, antwortete er mir schließlich doch.
Seine Worte blieben noch lange in meinem Gedächtnis kleben:
“Bruder, komm mit mir nach Panama, da wird Deine innere Stimme reden. Morgen früh geht’s los. Ach nein, doch lieber jetzt gleich, denn das Leben ist kurz.“
Ihr werdet jetzt sicher denken, dass mein Bruder völlig bescheuert ist und ich noch viel mehr. Einfach so nach Panama zu reisen, ohne Route oder einen echten Grund, nur ein Typ auf der Suche nach sich selbst und sein Bruder, dessen bloßes Aussehen schon jeden Zoll-Fahnder in Alarmbereitschaft versetzt.
Ich aber kann euch erwidern:
Endlich hatte ich ein Ziel vor Augen, abwegig zwar oder verrückt, aber es existierte, und sein Name war Panama.

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Freitag, 8. Juni 2007
Auf nach Panama - Teil 1
Heute ist der Tag, auf den ich 35 Jahre lang gewartet habe.
Ich weiß, diesen Satz hört man eigentlich zu häufig.
Als würde man wirklich bewusst so lange Zeit auf nur einen Tag warten…
Aber ich sage euch, bei mir stimmt es, innerlich zumindest.
Ich wusste immer, dass mit der Welt, in der wir alle leben, eine Menge nicht stimmt.
Jetzt werdet ihr sagen: Das weiß doch jeder, der auch nur einmal in der Woche die Tagesschau guckt. Richtig, aber das ist was anderes. Ich habe nämlich immer gespürt, wie unbehaglich sich der Platz anfühlt, den man mir in dieser Welt zugewiesen hat (wer auch immer dafür verantwortlich ist). 35 Jahre lang tat ich nichts, was dem Wort Widerstand auch nur im Entferntesten nahe käme.
Habe mich gefügt, als Sklave meines Schicksals (ja, vielleicht ist diese Formulierung übertrieben, na und?).
Aber heute wurde mir bewusst, dass damit Schluss sein muss.
Nicht beim Aufwachen, nein, da bin ich doch wirklich genug damit beschäftigt, gegen den unendlichen Sog der Müdigkeit anzukämpfen, der mich ans Bett fesselt (ich hab´s heute echt drauf mit den Metaphern). Wäre das hier der Anfang eines Kapitels der Memoiren irgendeines großen Politikers, dann wäre ihm die weltverbessernde natürlich gleich beim Aufwachen gekommen.
Nein, ich bin ehrlich, meine Idee kam erst ein paar Minuten nach dem Aufstehen, beim Pissen.
Ich überlegte mir gerade, vielleicht einen Bus früher zu nehmen, um auf jeden Fall pünktlich im Büro anzukommen.
Damit ich meinem Chef nicht erneut mit unterwürfigem Lächeln etwas von dem dichten Verkehr als tiefere Ursache meiner Unpünktlichkeit erzählen musste. Doch dann spulte ich meine billige Ausrede im Geiste zurück und ersetzte sie durch eine Version, die mich in spontanes und ehrliches Gelächter ausbrechen lies (war das erste Mal, dass ich auf dem Klo gelacht habe).
Ich stellte mir vor, wie ich das Büro meines Chefs betrete, mit sportlichem Schritt und in legerer Kleidung (natürlich ohne anzuklopfen), mich vor seinen Schreibtisch stelle und ihm sage, dass ich eine enorm wichtige Frage an ihn hätte, die keinen Aufschub erlaube. Er glotzt dann weiter auf den Monitor seines Computers und signalisiert wahlweise durch ein unverständliches Brummen oder eine von Laien nicht erkennbare Kopfbewegung, dass er mir in unendlicher Güte drei Minuten seiner wertvollen Zeit zu opfern bereit ist. Darauf sage ich ihm, dass ich nur eine bräuchte, wenn er den Anstand hätte, während dieser einfach mal seine hässliche Fresse zu halten. Und da ist er, der Schockmoment, in dem er nichts erwidern kann, sondern verzweifelt zu ergründen versucht, ob meine Worte wirklich so von mir gesagt wurden oder ob sein fortgeschrittenes Alter den ersten Tribut fordert.
Ich nutze diesen Moment aus, so gut es nur geht.
Zunächst setze ich das übertriebenste Gute-Laune-Grinsen auf, welches mir gelingen kann. Es ist gar nicht so leicht, dieses Grinsen während meines folgenden ein-minütigen Vortrages in seiner anfänglichen Intensität zu halten, doch ich gebe mir alle Mühe.
Was ich meinem Chef erzähle?
Na alles das, was ich ihm an jedem Tag der letzten fünf Jahre gerne gesagt hätte!
Dass ein kleiner Schwanz noch lange keine Legitimation dafür gibt, die sexuelle Frustration tagtäglich an seinen Angestellten auszulassen, zum Beispiel. Schließen tue ich meine kleine Ansprache (während der er tatsächlich brav die Klappe gehalten hat, auch wenn die immer dunkler werdende Röte in seinem Gesicht wirklich Anlass zur Sorge gab) übrigens mit den Worten:
„Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche noch einen wunderschönen Tag…...Sie Arsch!“
Ach, was musste ich bei dieser Vorstellung lachen.
Noch viel mehr jedoch, als ich sie eine Stunde später in die Tat umgesetzt habe.
So verließ ich das Büro meines Chefs (jetzt Ex-Chefs) mit einem Gefühl unendlicher Befreiung, welches man wohl nur in ähnlicher Form erlebt, wenn man nach Stunden des Wartens endlich Pinkeln gehen darf.
Ok, diese Zeilen sollen für heute genügen. In ein paar Tagen erzähle ich dann, was unmittelbar nach den Geschehnissen im Büro passierte.
Dann erfahrt ihr auch, warum dieser Bericht
„Auf nach Panama“ heißt.
Eines kann ich an dieser Stelle schon verraten:
Hinter mir liegen sehr merkwürdige Tage.
Aber ich habe so das Gefühl, dass ich sie bitter nötig hatte.

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Samstag, 2. Juni 2007
Das Leben ist schön...
…diesen Satz meiner Mutter werde ich im Gedächtnis behalten, und zwar für immer.
Sie hat ihn mir nicht nur gesagt, jeden Abend vor dem Schlafengehen (ich muss so um die sechs Jahre alt gewesen sein), sie hat ihn gelebt.
Es fing schon damit an, dass ich streng genommen ein Unfall war. Ihr Freund riet ihr damals zur Abtreibung, wobei „raten“ noch sehr nett ausgedrückt ist. Doch meine Mutter, gerade 22 Jahre alt, ignorierte die blauen Flecken und das verzweifelt brutale Drängen ihres Freundes und freute sich auf den Tag, an dem ich auf die Welt kommen sollte.
Das Leben ist schön.
Ich bin sicher, so klangen die ersten Worte, die ich als Baby hörte. Sie muss ehrlich glücklich gewesen sein, als dieser kleine unbeholfene Mensch endlich in ihren Armen lag und sie die Neugierde in seinen winzigen Augen sehen durfte. Da wusste sie, wie sehr es sich gelohnt hatte, mich zu behalten, und vor allem, dass sie sich stark genug für die Verantwortung fühlte, die vor ihr lag.
Etwas, was von meinem Vater nicht behauptet werden kann.
Aber das erste, was meine Mutter tat, nachdem er uns beide aus der Wohnung geschmissen hatte, war, mit mir an den See zu fahren.
Habt ihr Euch schon mal einfach nur ans Ufer gesetzt und zugehört, wie das Geräusch des Wassers klingt oder die Stimmen der Vögel?
Macht man so etwas heute überhaupt noch?
Wie auch immer, meine ersten Kindheitsjahre verliefen glücklich, weil meine Mutter dafür sorgte. Natürlich fiel es ihr nicht leicht, sich um mich zu kümmern, in dieser kleinen neuen Wohnung und wo ihr doch nur noch wenige Freunde geblieben waren, die sie in ihrer neuen Lebenssituation unterstützen wollten.
Es muss Momente gegeben haben, in der die Verzweiflung Überhand gewann, die Verantwortung zur drückenden Last wurde und sich ein Gefühl der Einsamkeit über die ganze Wohnung zu legen drohte.
Doch dann blieb sie nicht sitzen, nein, sie stand auf und lief zu mir hinüber, in mein Zimmer.
Sie sah mich an und wusste, warum sie diesen einen Satz so oft wiederholte:
Das Leben ist schön.
Ich weiß nicht, warum das Leben sich nicht mehr anstrengte, um meiner Mutter zu zeigen, wie Recht sie hatte.
Was es mit dem Menschen gemacht haben muss, der sie vor eine U-Bahn geschubst hat, als ich zehn Jahre alt und sie auf dem Weg zu ihrer ersten richtigen Ausbildung war.
Wie sich der U-Bahn- Fahrer dabei fühlte oder was er für ein Leben führte.
Wie oft ich danach weinen musste und daran dachte, dass meine Mutter mit ihrer Einstellung eine Lügnerin ist.
Aber jetzt weiß ich, wie Recht sie trotz allem hatte.
Es ist eine besondere Kunst, die Bedeutung des folgenden Satzes zu verstehen:
Das Leben ist schön.


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Samstag, 26. Mai 2007
Ein Geständnis
Hallo liebe Welt,

ich denke, die Zeit ist reif für ein kleines Geständnis.
Ja, ich bekenne mich schuldig. Nein, niemand anderes hat Schuld, sie liegt bei mir, bei mir alleine.
Was ich denn Schlimmes getan habe?
Nun, ob es wirklich als schlimm zu bezeichnen ist, darüber mögen andere urteilen, ich stelle nur die Fakten dar:
Ich bin ein Verräter.
An wem ich Verrat begangen habe?
Die Person, die von mir verraten wurde, steht mir sehr nahe, ich kenne sie gut (zumindest glaube ich das).
Ich sehe sie auf Fotos, dort lächelt sie, oder wenn ich in einen Spiegel blicke, aber dann bleibt ihre Miene meist starr.
Eines Morgens bin ich dann aufgewacht und war von meiner Entscheidung überzeugt.
Klar, Veränderungen fallen oft deshalb schwer, weil man Gewohntes aufgeben muss. Nach etwa einem Monat jedoch hatte ich den härtesten Teil hinter mir. Endlich wurde ich angelächelt, wann immer ich in einen Spiegel sah.
Ich denke, dass ich meinen Verrat von mir aus gar nicht bemerkt hätte. Hierzu bedurfte es meine besten Freunde (Damit meine ich die, welche ich schon vor besagtem Morgen als solche bezeichnete).
Nicht falsch verstehen, die sahen mich gerne lächeln.
Aber sie wollten, dass ich es wieder so tat wie früher, wenn mir wirklich danach war.

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Freitag, 18. Mai 2007
Paul
Ich erzähle Euch jetzt eine kleine Geschichte, doch seid gewarnt, denn schön ist sie nicht. Bitte erwartet keinen Spannungsbogen oder eine Überraschung am Ende.
Der Protagonist dieser Geschichte, nennen wir ihn Paul, wird sich zum Schluss umbringen. Klar, dieser Umstand schockiert an dieser Stelle keinen, denn ihr wisst von Paul bisher nicht mehr als seinen Namen.
Aber was macht diesen Paul nun so besonders, dass ich von ihm erzählen möchte?
Würde man diese Frage einem seiner Freunde stellen, entstünde mit großer Wahrscheinlichkeit eine nachdenkliche Stille, an deren Ende Aussagen wie „Paul ist ein netter Kerl“
oder „Paul ist ein guter Kumpel“ fallen würden.
Aha. Wisst ihr jetzt mehr von Paul? Eher nicht.
Gut, dann versuche ich es ein bisschen ausführlicher:

Paul hat meistens gelächelt. Wirklich gelacht selten, aber mit seinem leicht zurückhaltenden Lächeln war er als Gesprächspartner sehr angenehm.
Er war nie taktlos, aufmüpfig oder altklug, und hat andere immer ausreden lassen.
Wenn im Freundeskreis Unternehmungen anstanden, war Paul fast immer und ohne Diskussion dabei. Anschließend half er oft dem einen oder anderen Kumpel, der in der Kneipe die Bedienung ein paar Mal zu oft bemüht hatte, beim Nachhausekommen. Er selbst fand den Weg immer alleine.
Doch soll hier nicht der Eindruck entstehen, dass Paul langweilig war. Er gehörte vielleicht nicht zu den ersten, die in Unterwäsche über den Schulhof der katholischen Grundschule gerannt sind, doch stand er dabei und hat die Kumpels mit der Kamera gefilmt, um die Erinnerung zu konservieren.
Sein Problem bestand eher darin, dass er in der Menschenmenge das Profil verlor, man konnte ihn dann leicht übersehen. Er selbst nahm irgendwann an, er sei unsichtbar. Seine Erscheinung wurde vielleicht wahrgenommen, hinterließ beim Betrachter aber keine bleibenden Einträge im Gedächtnis oder auch nur die schwächste Spur eines Gefühls.
Auf seiner Geburtstagsparty war es fast so, als sei er gar nicht richtig anwesend.
Zwei Wochen später trafen die Freunde dann wieder zusammen, um Paul die letzte Ehre zu erweisen. Er hatte sich kurz nach besagter Party aus dem Fenster seiner Wohnung gestürzt.
Dabei lief wieder die Kamera.
Damit seine Freunde ein letztes Mal sehen konnten, wie er lächelte.

Ich habe euch ja vorher gesagt, dass Pauls Geschichte kein gutes Ende nimmt.
Bleibt von meiner Seite nur noch eines festzuhalten:
Ganz zum Schluss hat Paul doch einen Platz im Gedächtnis seiner Freunde gefunden.
Aber ich bin mir wirklich nicht sicher, ob er sich darüber freuen würde.

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Samstag, 12. Mai 2007
Zuhause
Dunkel lag sie vor ihm, die Straße, mit Bäumen auf beiden Seiten.
Die Äste und Blätter zitterten im Wind, als ob sie dessen Willen gehorchten. Obwohl er unter einem Vordach stand und sich mit dem Rücken an die kalte Steinwand presste, wurde er nass, denn der Wind schickte den Regen in ungleichmäßigen Abständen zu ihm hinüber.
Kein Mensch war mehr auf der Straße, und es wunderte ihn nicht.
Für einen Moment dachte er daran, zurückzugehen, und wie die anderen in einem Zimmer abzuwarten, bis der Sturm seine Kraft verlieren würde.
Aber dann könnte er heute nicht mehr da ankommen, wo er schon so lange hinwollte.
Könnte nicht das hölzerne Gartentor beiseite schieben, und sich dabei wieder vornehmen, es endlich neu zu streichen.
Könnte nicht an der Hecke vorbeigehen, die ihn jedes Mal daran erinnerte, wie schön es sein kann, der Natur keine Grenzen zu setzen.
Und er könnte auch nicht in das Gesicht der Person blicken, für die sich der Weg durch Regen und Sturm lohnte.
So trat er auf die Straße, wurde sofort nass und fror entsetzlich, doch anhalten wollte er nicht, denn seine Füße liefen von alleine.

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Freitag, 4. Mai 2007
Nur ein Traum
Sie steht am Ufer des Sees, barfuß, mitten in der Nacht.
Die Oberfläche des Wassers spiegelt das Mondlicht, während kleine Wellen um ihre Füße tanzen.
Das Wasser fühlt sich nicht kalt an, sie spürt es kaum.
Selbst der Wind vermag es nicht, sie frieren zu lassen.
Vom nahen Wald hört sie ein hektisches Rascheln, aber es kann ihr keine Angst machen.
Erst als sie ihren Blick senkt und das Wasser sich weigert, ihr Bild zu reflektieren, wacht sie auf.
Sie dreht sich auf die andere Seite und hofft, dass der See ihr beim nächsten Besuch zeigen wird, was sie sehen will.

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Samstag, 21. April 2007
Vergiftet
Er war sich nicht mehr ganz sicher, denn die letzten Jahre verschwommen in seinem Kopf, doch es musste schon einige Zeit her sein, dass er vergiftet wurde.
Sie hatten ihm weiß machen wollen, er käme darüber hinweg.
„Klar, es braucht seine Zeit, doch Du wirst sehen, dass Du es schaffst.“
Ja, es war lieb gemeint, und er hätte einem Freund nichts anderes gesagt als das.
Aber helfen konnte es ihm nicht.
Er spürte nun, wie das Gift langsam auf seinen ganzen Körper übergriff, mehr und immer mehr. Gleichzeitig schwanden seine Kräfte.
Sein Kampf war tapfer, doch kam er ihm immer vergeblicher vor.
Gut für ihn, dass das Gift von innen wirkte, denn so sah man es ihm nicht an.
Kämpfen musste er jeden Tag, und immer alleine. Wollte er das so? Manchmal ja, dann ging es darum, es sich selbst zu beweisen.
Aber in seiner letzten Nacht, als das Gift seinen ganzen Körper zerfressen hatte, da wünschte er sich jemanden an seine Seite, der ihm bei seinem Kampf helfen konnte.

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Samstag, 31. März 2007
Eine chemische Romanze
Wer auch immer den kleinen Blumenladen an der Straßenecke betrat, fühlte sich für den Moment seines Besuches in eine andere Welt versetzt, voller Lebendigkeit und schöner Farben.
Wohl auch aus dem Grund hatte der Junge seine Ausbildung in diesem Laden begonnen.
Sein Chef, den er schon nach drei Tagen eher als Mentor betrachtete, stand kurz vor der Pensionierung, so dass der Junge sein letzter Auszubildender sein würde.
Lag es daran, dass er ihn so gut behandelte?
„Mein Junge, Blumen und Menschen haben ein besonderes Verhältnis zueinander.
Manche passen besser zusammen als andere. Wenn Deine Ausbildung fertig ist, dann wirst Du erkennen, welche Blume zum Kunden passt, sobald er den Laden betritt.“
Daran glaubte der Junge zwar zu Beginn keine Sekunde, widersprach seinem Chef aber auch nicht.
Am besten gefiel es ihm, für die Kunden die passenden Blumen zusammenzustellen.
Im Laden waren alle viel freundlicher als draußen auf der Straße, so als würde diese kleine faszinierende Welt ihnen beim Lächeln helfen.
So verwunderte es nicht, dass viele der Kunden regelmäßig kamen.
Aber ein Kunde, Herr Henkelmann, war so besonders, dass ihm sein Chef bereits am ersten Tag der Ausbildung von ihm erzählte.
„Herr Henkelmann besucht uns jeden Freitag so gegen 17 Uhr. Er lässt jedes Mal einen Strauß Blumen zusammenstellen, für seine Frau.
Welche Blumen das sind, überlässt er Dir.
Sieh einfach zu, dass sie zusammenpassen.
Nur eines ist sehr wichtig: Es muss eine gelbe Rose darunter sein, und zwar eine aus dem Eimer, der hier unter der Kasse steht. Das sind nämlich keine normalen Rosen, ich habe jeder einzelnen von ihnen ein paar Tropfen einer Mixtur mit außergewöhnlicher Wirkung in die Blüte geträufelt.“
Der Junge sah seinen Chef verwundert an.
„Was bewirken diese Tropfen?“
Sein Chef begann zu lächeln.
„Ich erinnere mich noch genau daran, wie Herr Henkelmann zum ersten Mal hier war.
Er wollte einen Strauß Blumen kaufen.
Also fragte ich ihn, für wen die Blumen gedacht seien.
„Für eine Dame“, antwortete er knapp.
„Und ist es eine besondere Dame?“, fragte ich weiter.
Da verdunkelte sich sein vorher noch sehr heiterer Blick.
„Ja, das ist sie.“
Jetzt wollte ich es genau wissen. Denk daran, Du musst Deine Kunden kennen, um ihnen die richtigen Blumen zu verkaufen.
Deshalb fragte ich ihn, warum er denn so traurig aussah, wenn er von dieser besonderen Dame sprach.
„Weil bei ihr alle Mühe vergeblich ist“, lautete seine knappe Antwort.
Da wusste ich sofort, wie ich dem Mann helfen konnte.
Ich erinnerte mich an ein Rezept, was mir mein Chef, ein wirklich kluger Mann, einmal verraten hatte. Mit diesem Rezept konnte ein Mittel hergestellt werden, dessen Duft ausreichte, um jede Frau zu verführen.
Ja mein Junge, als ich zum ersten Mal davon gehört habe, musste ich auch grinsen.
Aber vertrau` mir, es funktioniert!
Mein Chef war der lebende Beweis.
Ich habe es ihm auch erst wirklich geglaubt, als ich die vielen hübschen Frauen sah, die zu seiner Beerdigung kamen.
Von da an probierte ich es selbst aus und ich kann Dir eines versichern:
Dieses Wundermittel ist der heilige Gral, nach dem ein jeder Mann sein Leben lang insgeheim sucht, und mein Chef hatte ihn gefunden. Ich weiß nicht, warum er dieses Rezept nicht zu Geld gemacht hat. Vermutlich siegte am Ende einfach der Egoismus, bei mir ist es ja genauso gewesen.
Wie auch immer, Herr Henkelmann war zunächst sehr skeptisch.
Also gab ich ihm den Blumenstrauß mit den beträufelten gelben Rosen, ohne dass er dafür bezahlen musste.
Genau eine Woche später betrat ein vollkommen veränderter Herr Henkelmann meinen Laden, dessen Glück in jedem Wort, das er sprach, und in jeder seiner Gesten zu sehen war. Von da an kaufte er immer freitags einen Blumenstrauß, und jedes Mal musste ich ihm eine der besonderen gelben Rosen mit hinein binden.
Schon bald sagte ich ihm, dass die gelbe Rose gar nicht mehr nötig sei, doch er wollte kein Risiko eingehen.
So geht das bis heute. In einer halben Stunde müsste er hier sein.“

Nachdem der Chef dem Jungen die Geschichte von Herrn Henkelmann erzählt hatte, ging er nach Hause.
Der Junge stand nun das erste Mal alleine im Laden und dachte nach.
Was fehlte dem Herrn Henkelmann, warum hatte er das Herz seiner Frau nicht auch ohne die gelbe Rose gewinnen können?
Erst das Klingeln der kleinen Türglocke holte ihn aus seinen Gedanken zurück.
Herr Henkelmann betrat den Laden, mit schwungvollem Schritt und freundlichem Gesicht. Er stellte sich vor die Kasse und bat um den üblichen Strauß.
„Junger Mann, dass sie mir ja nicht die gelbe Rose vergessen!“
Der Junge fasste einen Entschluss.
„Sie bekommen den Strauß, aber wir haben leider keine der besonderen gelben Rosen mehr.“
Sofort wurde Herr Henkelmanns Körperhaltung unsicherer und seine gesunde Gesichtsfarbe verwandelte sich in Blässe.
„Wissen Sie, diese Rose ist sehr wichtig für mich. Ohne sie brauche ich gar nicht erst nach Hause zu gehen.“
Doch der Junge begann bereits damit, die anderen Blumen für den Strauß zusammenzubinden.
„Die Rose hat mir eine wunderbare, mittlerweile fünfjährige Beziehung ermöglicht.
Wollen Sie, dass ich die nun einfach aufgebe? “
Der Junge hielt für einen Moment inne.
„Denken Sie im Ernst, dass eine gelbe Rose ihre Frau dazu gebracht hat, sich in Sie zu verlieben?
Glauben Sie mir, sie wird sich auch so über den Strauß freuen.
Er kommt doch von Ihnen.“
So verließ Herr Henkelmann den Blumenladen zu ersten Mal mit einem Strauß, in dem die gelbe Rose fehlte.
Der Junge aber war zuversichtlich:
Herr Henkelmann würde trotzdem wie gewohnt am nächsten Freitag zurückkehren, um Blumen für seine Frau zu kaufen.
Dann wird er endlich eingesehen haben, wie wenig er die gelben Rosen noch benötigt.

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Samstag, 24. März 2007
Gefängnis im Kopf
Sein neues Zuhause ließ ihn vieles vergessen, doch eine Erinnerung musste einfach bleiben, als ob sie in sein Hirn eingebrannt worden wäre:
Das Gefühl von Sand auf der Haut, das Rauschen der Wellen, die kreischenden Möwen und nicht zuletzt der Wind, ohne den das Meer gar nicht existieren könnte. Verbunden waren diese Empfindungen mit seiner Familie, mit der er vor gut zwei Jahren endlich in das Haus direkt am Strand gezogen war. Lange hatten sie davon gesprochen, es sich ausgemalt, Pläne geschmiedet, aber zu oft den entscheidenden Schritt nicht gewagt.
Dann standen sie eines Abends doch endlich am Strand, hinter ihnen ihr Haus, vor ihnen nur das Meer, und brauchten eine Weile, um die Situation zu erfassen.
Von da an saßen sie viele Abende direkt am Meer, mal alleine, mal alle zusammen oder nur er mit seiner Frau, und es fühlte sich gut an, denn ein lange gehegter Wunsch war in Erfüllung gegangen.
Es betrübte ihn, dass die Stimmen in seinem Kopf genau in dem Jahr zum ersten Mal erklangen, als er mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn in das neue Haus zog.
Er wusste nicht, woher sie kamen oder wie er sie dazu bringen konnte, zu schweigen.
Und als sie immer öfter zu ihm sprachen, da konnte er sie einfach nicht mehr ignorieren.
Er wollte sie verjagen, herausbekommen aus seinem Leben, aus dem Leben seiner Familie, dem neuen Leben am Meer.
Er schrie gegen sie an, besonders nachts, weil sie ihn dann am lautesten riefen. Aber bald gab er seinen Widerstand auf, viel zu schnell, wie er sich später eingestehen musste.
Zum ersten Mal hörte er ihnen zu, und wenig später tat er, was sie ihm befahlen.
Seiner Familie konnte er es nicht verheimlichen, denn für sie wurde er mehr und mehr zu einem Fremden, einer Bedrohung.
So landete er hier, in diesem kleinen Raum, ohne scharfe Ecken oder spitze Gegenstände, mit denen er sich verletzten konnte, wie er es damals gemacht hatte.
Man kümmerte sich um ihn, beschützte ihn vor den Stimmen, die durch kleine weiße Pillen zum Verstummen gebracht wurden.
Jetzt, in den Nächten ohne Stimmen, da musste er immer an seine Familie und das Meer denken, und er wollte dahin zurück.
Sein Sohn hatte ihm ein Bild gemalt, auf dem er mit Mama und Papa am Strand steht und auf das Meer hinaus sieht.
Es hing direkt an der Wand über dem Bett.
Manchmal brachte er Stunden vor dem Bild zu, ließ es realer werden, bis er endlich selbst wieder neben seinem Sohn und seiner Frau das Meer betrachten konnte.
Alles war da, der Sand, die Wellen, die Möwen und natürlich der Wind, aber sein schmerzender Kopf verhinderte jedes Mal, dass er länger am Strand blieb.
Doch immer, nachdem er ihn ein letztes Mal gegen die Wand geschlagen hatte, wusste er, dass er es wieder tun würde, um zu seiner Familie zurückzukehren.
Schon bald kamen Männer und nahmen das Bild weg, damit es ihn nicht mehr dazu brachte, mit dem Kopf gegen die Wand zu hauen.
Von nun an blieb ihm nur, jeden Gedanken zu nutzten, um gegen das Verblassen der Erinnerung anzukämpfen, der Erinnerung an das Meer und seine Familie.

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