Dienstag, 9. Oktober 2007
Ich und meine Kette
Als ich geboren wurde, unterschied ich mich in vielen Punkten von den Menschen meiner Umgebung.
Der sonderbarste von ihnen bestand nicht in meinem Aussehen oder meiner Herkunft, wohl aber in einer langen und schweren Kette, die mir um den Fuß gebunden wurde.
Ich erinnere mich noch, wie mich die anderen Kinder deswegen mit abwertenden Blicken betrachteten oder nicht wollten, dass ich mit auf das Klettergerüst stieg. Sie verstanden genauso wenig wie ich, warum ich eine Kette hinter mir her zog, oder wer sie mir umgebunden hatte. Ihre Abneigung begründete sich auch weniger aus der bloßen Existenz der Kette, sondern viel mehr aus der Art, wie sie mich behinderte. Es versteht sich von selbst, dass ich niemals so schnell rennen konnte wie die anderen. Überhaupt brauchte ich für jede Tätigkeit, die mit Bewegungen zu tun hatte, länger als sie.
Sicher, mit der Zeit setzte eine Gewöhnung ein, da sich mir einfach keine Möglichkeit bot, die Kette loszuwerden. Diese Gewöhnung bestand darin, nicht mehr an die Kette zu denken.
Dennoch: Oft genug wurde ich wieder an sie erinnert. Besonders, wenn ich wegen ihr irgendwo hängen blieb, oder nicht schnell genug voran kam. Dann drängte sie mit einem Knall zurück in mein Bewusstsein und wurde plötzlich noch schwerer als zuvor.
Deswegen beschloss ich irgendwann, sie einfach unter meiner Kleidung zu verstecken.
So würde ich sie zwar nicht loswerden, aber immerhin konnte sie jetzt von niemand anderem mehr gesehen werden. Sie war noch genauso schwer wie immer, doch ich wurde nicht mehr auf sie angesprochen.
Wenn ich umfiel oder zu langsam war, dann wusste niemand mehr, woran es lag. Ich denke, dieser Schritt war notwendig, um in meiner Umgebung zu überleben. Ich weiß, dass ich bis zum Tod an die Kette gebunden sein werde und bin jetzt der einzige, der diese Wahrheit mit sich herum trägt.

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