Dienstag, 18. März 2008
Ein Platz zum Sitzen
Nicht weit entfernt, da betritt ein kleiner Mann die Kneipe, in der er noch nie zuvor war. Er steht für einen Moment im Eingangsbereich und sieht sich um. Hose und Hemd sind ungefähr zwei Nummern zu groß, aber wen stört das hier schon? Die Decke ist niedrig, es gibt nur wenige, schwache Lampen. An den Wänden hängen Bilder mit Hirschen auf Wiesen, auf Hügeln oder im Wald.
Der Mann zählt sechs Tische, an jedem sitzen mindestens zwei Personen. Alles ist aus dunklem Holz: Tische, Stühle, die Wände.
Stimmen vermischen sich mit Schlagermusik zu einem akustischen Brei, der durch den Raum wabert wie Rauchschwaden.
Der Wirt entdeckt den Mann und winkt ihn zu sich heran.
Keine Reaktion.
Nach erneutem Winken macht der Mann zögerliche Schritte in Richtung Tresen und stellt sich neben einen Barhocker.
Er bittet um Apfelsaft und verbringt viel Zeit damit, in die trübe Flüssigkeit zu starren.
Ein Mann mit Vollbart und ungekämmten, schulterlangen Haaren will wissen, warum der kleine Mann alleine am Tresen steht.
Der überlegt und fängt danach mit monotoner Stimme an zu sprechen, weiter mit dem Apfelsaft im Fokus.
„Ich muss stehen, weil ich keinen Ort mehr kenne, an dem ich gerne sitzen würde. Es gab mal einen Ort, wo ich das Sitzen mochte, aber sie haben mich von da vertrieben.“
Sein langhaariger Sitznachbar erkundigt sich nach dem Name des Ortes, doch der kleine Mann steht nur wortlos auf und geht zur Tür.
Kurz vor dem Ausgang dreht er sich um und schaut erneut in den Raum.
„Auch wenn die Decke höher, das Licht heller und die Wände mit geschmackvollen Bildern behangen wären, wenn sie mir zum Empfang ihre offenen Armen entgegenstrecken würden oder Münzen in meine Taschen steckten, ich könnte mich hier niemals hinsetzen.“
Dann verlässt er die Kneipe und tritt hinein in eine dunkle Nacht.

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