Freitag, 28. März 2008
Klogedanken
Ein Empfinden, welches in seiner Widerwärtigkeit mit neutralem Gesichtsausdruck nicht zu ertragen ist und permanent den Wunsch nach dem Moment seines Verschwindens hervorruft, fesselt sie geradezu an ihr Klo. Sie kniet davor, zwei weiße Hände krampfen sich um den Rand. Ihre langen blonden Haare hängen übers Gesicht bis zum Wasser, ihr Kopf zuckt dabei ruckartig von links nach rechts. Viel Geld würde sie in diesem Moment geben, um gefühllos zu sein.
Ein kurzes, leicht stotterndes Würgen, sicher auch von außerhalb des Bads gut hörbar, dann schießt ihr Mageninhalt durch den Mund und besprenkelt das Porzellan. In ihrem Bauch breitet sich gefühlte Erlösung aus, endlich.
„Eine Art negativer Orgasmus“, denkt sie und ihr wird klar, was sie vor wenigen Stunden getrunken hat.
Schnell kehrt das Gefühl des Ekels zurück, schnell wird sie einen weiteren Teil des Alkoholgemisches los, wegen dem sie ihren Nachhauseweg nur mit Unterstützung eines Freundes geschafft hat. Sie zieht die Spülung, und noch während das Wasser läuft, übergibt sie sich erneut.
Ihre Haare sind jetzt bis zur Hälfte nass, Schweiß steht auf ihrer Stirn und Tränen in ihren Augen. Die Schuld an der momentanen Lage liegt allein bei ihr. Sie verträgt nicht viel, und doch folgte dem Sekt der Tequila, und dem Tequila folgte Wodka.
Gesucht hatte sie Ablenkung, nun bereut sie ehrlich.
Ihre Freundin Anja wurde gestern 25, natürlich war sie eingeladen.
Vor dem Studium wäre eher der Mond auf die Erde gefallen, als dass die beiden sich einen Tag nicht sehen oder wenigstens hören konnten. Hätte eine für die andere Tagebuch geschrieben, keinem Leser wäre es aufgefallen.
Wieder muss sie würgen, aber aller Alkohol ist mittlerweile draußen, der Rest im Blut.
Sie will Klopapier, um sich den Mund damit abzuwischen, kommt mit der Hand nicht ganz bis zur Rolle, steht auf, taumelt sogleich und kniet sich wieder hin.
Anja hätte vorhin in der Bar fragen müssen, ob sie mit ihr aufs Klo kommen wollte.
Doch Anja tat es nicht, sie ging alleine. Da wurde ihrer Freundin klar: Wir haben uns entfremdet.
„Wer ist schuld? Sie, ich, das Studium? Wie eng kann die Freundschaft gewesen sein, wenn der Drang zu ihrem Weiterführen nicht stark genug ist, um räumliche Entfernung auszugleichen?“
In ihrer jetzigen Situation hätte sie früher zum Handy gegriffen und Anja angerufen. Gerade fällt es ihr schwer, sich überhaupt zu erinnern, wo ihr Handy steckt.
Anja wäre sofort vorbeigekommen und hätte die Nacht neben ihr am Klo verbracht. In den Kotzpausen hätten sie geredet und gelacht.
Über Kleider und darüber, wer sie tragen kann und wer nicht (kein Lästern, nur Feststellen). Über die Frage, welche Opfer Liebe von einem fordern darf. Über Carries Schuhsammlung in Sex and the City. Und natürlich über ihren Ex Tobias. Da hätten sie ihre „Ein Leben ohne Tobi ist besser, weil…“ – Liste um viele Punkte erweitern können.
„Was geht heute in diesem hübschen, von schulterlangen schwarzen Haaren umrahmten Kopf vor, was will sie vor mir verstecken?“
Sie würgt, die Magensäure verbittert den Geschmack.
„Wo ist ihr eigentümlicher, verständnisvoller Blick, oder anders gefragt: Wer bekommt ihn jetzt?“
Es gab keinen Streit, keine bewusste Trennung.
Es gab nur weniger oft „Anja“ auf dem Handy-Display und ein Tagebuch mit Codewort, das ihre Freundin nicht mehr kannte.
Nach Abschluss dieses Gedankens zieht sie ihren Kopf aus dem Klo und atmet durch.
Sie weiß: Die Chance, es noch bis zum Bett zu schaffen, ist verschwindend gering.
Also schläft sie hier im Bad, und wenn sie morgen aufwacht, werden diese ganzen albernen Gedanken nur noch belächelt.
„Freundschaften kommen und gehen, so ist das eben.“

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