Dienstag, 11. März 2008
Angekettet
Der Moment, den sie sieben Monate herbeigesehnt hatte, erschien für sie trotz ihrer zutiefst empfundenen Freude unwirklich:
Sie wollte mit Steve doch nur ins Kino, zu einer dieser romantischen Komödien, über deren vorhersehbare Handlung es in Hollywood eine Art Dogma geben musste. Steve hatte eingewilligt, mit ihr zu gehen („Weil Du es bist").
Gerade legte sie das fünfte Mal Hand an ihr Make-Up und verfluchte ihren Lippenstift, dessen Rot definitiv zu intensiv war, da klingelte es an der Tür. Zu früh für Steve, und doch stand er draußen. Ob er reinkommen dürfe, fragte er sie mit der Stimme, die er immer bekam, wenn er ihr etwas Wichtiges sagen wollte, was ihm aber aus unterschiedlichen Gründen schwer fiel.
„Klar“, erwiderte sie mit einer Mischung aus Verwunderung und Erwartung. Ein kurzes Zögern, ein unsicheres Lächeln, dann trat er ein. „So ein Auftreten ist überhaupt nicht seine Art“, dachte sie.
Als sie ihn vor sieben Monaten kennengelernt hatte, befand er sich – umringt von einem Kreis begeisterter Zuhörer - in der Mitte einer Bar auf einem Stuhl und hielt eine Lobrede auf ihren und seinen Kumpel Alex, der ihnen gerade von seiner anstehenden Hochzeit erzählt hatte.
Spontan war Steve aufgesprungen und konnte seine ohnehin schon stattliche Statur noch überhöhen, in dem er auf den Stuhl stieg. Doch was ihn damals wirklich groß machte, waren seine Worte. In sie legte er dank blitzblanker Rhetorik so viel Glaubwürdigkeit, dass selbst Marc Anton neidisch geworden wäre. Als er wieder auf den Boden zurückkehrt war, wollte sie, dass er das nächste Mal, wenn er auf einem Stuhl eine Rede hielt, dabei nur an sie dachte.
Jetzt kniete er vor ihr auf dem Boden, seine Gedanken waren gewiss ausschließlich bei ihr. Eben hatte er sie als die Liebe seines Lebens bezeichnet, nun lief ihr, der glücklichsten Frau der Welt, eine kleine Träne die Wange herunter. Er blinzelte mit den Augen und fragte, ob sie bereit sei. „Sicher“, flüsterte sie zurück.
Ihr Hochgefühl hielt an, als er die Eisenkette um ihr rechtes Handgelenk schloss. Die Kette war kalt, unendlich kalt, doch sie wollte es so, denn das andere Ende der Kette hing an ihm. Wenn sie mit ihren Freundinnen telefonierte, musste sie dazu den linken Arm benutzen, da ihr das Anheben des rechten schwer fiel, aber riet eine Freundin ihr deswegen, die Kette zu entfernen, dann erwiderte sie nur: „Rede nicht sowas, Du Dummchen, das gehört dazu.“ So verschwand das Gefühl der Schwere mit der Zeit und wurde durch Gewohnheit ersetzt. Überhaupt tat ihr die Kette viel weniger weh, wenn sie sich den Bewegungen von Steve nicht widersetzte. „Er ist doch sowieso stärker. Das muss so sein. Er ist der Mann.“
Hatte sie anfänglich noch ein wenig gegengehalten, so lernte sie bald, seine Wünsche zu lesen, ohne dass er den Arm bewegen musste. Natürlich schnitt ihr die Kette auch ohne Steves Ziehen in die Haut, aber das Blut ließ sich leicht wegwischen. Und wenn sie ihn befriedigte (dass sie dabei oben zu liegen hatte, las sie ihm bald von den Lippen ab), legte sie sich die Kette um den Hals, damit ihn das kalte Metall nicht störte.
Einmal kündigten sich ihre Eltern zum Besuch an. Da bat Steve seine Freundin, die Kette vergolden zu dürfen, damit sie schöner aussah.
Er lächelte sie an. Sein Lächeln enthielt genug Kraft, um damit alle Übel der Welt zu verbannen.
„Eine ganz wunderbare Idee hast Du da, mein Engel.“
Also saß sie kurze Zeit später neben Steve auf der Ledercouch des Wohnzimmers, dazwischen eine goldene, glänzende Kette, und ihnen gegenüber ihre Eltern, die an Steves Lippen hingen. Er erzählte von der Baumdichte des brasilianischen Regenwaldes, von der Siedetemperatur flüssigen Kerzenwachses und vom Vollkorngehalt seines bevorzugten Toastbrotes, und alle drei waren von Herzen dankbar, seinen Worten folgen zu dürfen.
Beim Gehen nahm ihre Mutter sie kurz beiseite.
„Du weißt bestimmt, dass Du Dich unendlich glücklich schätzen kannst, so einen Mann kennengelernt zu haben. Lass ihn nie wieder los mein Schatz! Hörst Du, Du darfst ihn nie wieder los lassen!“
„Ich wäre so dumm, wenn ich das täte“, dachte sie, als sie ihrer Mutter zum Abschied noch einmal zuwinkte.
Mittlerweile wohnen Steve und sie in einer anderen Stadt, weil sein Beruf es nicht anders zuließ. Sie ist sich sicher, dass er ihr bald den Antrag machen wird, auf den sie wartet.
„Für Dich warte ich, Steve, für Dich warte ich für immer“, flüstert sie oft, wenn sie abends neben ihm liegt und er schon fest schläft. Oder wenn sie seinem Wunsch nachgibt, sich vor ihm auf die Knie zu werfen.
Sie tut das gerne, denn sie liebt ihn, und er liebt sie ja auch.

... comment

 
Ganz schön selbstlos, die Gute... Und ganz schön selbstverliebt, der Steve... Solche Ehen gibts vermutlich so einige.

... link  


... comment